Heutzutage ist es für viele normal, wenn der Besuch bei und von (Gross-)Eltern nur monatlich oder in den Ferien möglich ist. Nicht selten leben Familienmitglieder in einer anderen Stadt oder sogar in einem anderen Land; Lebensmittelpunkte verschieben sich. Dies geht einher mit der erhöhten Mobilität in einer globalisierten Welt. Gegenwärtig lebt in der Schweiz rund ein Viertel der erwachsenen Kinder mehr als 100 Kilometer entfernt von den Eltern.
Was, wenn nun die betagten Angehörigen nicht mehr selbstständig leben können, das eingeübte Räderwerk von gegenseitigen Besuchen ins Stocken kommt? Oft können oder wollen Angehörige berufs- oder familienbedingt nicht zurück in die Nähe der Betreuungsbedürftigen ziehen. Das Forschungsprojekt «DiCa – Distance Caregiving» (s. Infobox S. 5) hat untersucht, wie Angehörige trotz (inter-)nationalen Distanzen, eine wertvolle Stütze sind.
Beziehungspflege ermöglicht vieles
Die Beziehungspflege ist bei Distance Caregivern entscheidend. Regelmässig Fotos und Neuigkeiten von der entfernt lebenden Familie zu erhalten, schafft emotionale Nähe und Sicherheit. Nicht nur für die betreuungsbedürftige Person ist es wertvoll zu wissen, dass die Liebsten an sie denken. Auch Nahestehende, die vor Ort sorgen, erfahren dadurch Entlastung und Ermutigung. Viele dieser «von fern Unterstützenden» kümmern sich oft um administrative Belange und sind für die anderen Angehörigen vor Ort eine wichtige Stütze. Ist keine Familie vor Ort, organisieren Distance Caregiver oft das vorhandene Versorgungsarrangement mit. So berichtet eine Tochter, wie die Spitex-Mitarbeiterin am Abend einen Blumentopf vor dem Fenster ihrer demenzerkrankten Mutter so platziert, dass sie ihn am Morgen als störend empfindet und ihn umstellt. Steht der Topf um zehn immer noch dort, weiss die Nachbarin, dass die Mutter noch nicht aufgestanden ist, also etwas nicht stimmt, und informiert die Tochter.
Grenzen zeigen sich im Notfall
Liegt der letzte Besuch weiter zurück, wächst das Bedürfnis, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen. Auch die technischen Mittel wie eine WhatsApp-Gruppe oder Skype-Gespräche genügen dann für die Distance Caregiver nicht mehr. Das Gefühl entsteht, verzögert oder unvollständig benachrichtigt zu werden. Zwar ist ihnen bewusst, dass diejenigen vor Ort sie nicht zusätzlich belasten wollen. Trotzdem wünschten sie sich, von Nahestehenden und Fachpersonen vor Ort proaktiv informiert zu werden. Eine Tochter, die über den Atlantik hinweg unterstützt, meint, dass ihr ein Visavis fehle. Weil mehrere Personen beteiligt seien, wisse sie manchmal nicht, ob sie nun selbst handeln müsse oder eher nicht.
Das schlechte Gewissen gegenüber der betreuungsbedürftigen Person oder den betreuenden Angehörigen vor Ort nagt bei vielen. Die Distanz wird besonders zum Problem, wenn Zeit oder Geld fehlen, um die pflegebedürftigen Angehörigen regelmässig zu besuchen. Schuldgefühle und Sorgen nehmen zu. Als besonders belastend erleben sie, wie sich im Notfall die Anreisezeit gefühlt «verlängert». Zeitnah und vollständig informiert zu sein, hilft, damit umzugehen.
Freiraum und Selbstschutz dank Distanz
Wiederholt betonten die Distance Caregiver jedoch, wie sich der Abstand auch positiv auswirke – auf den eigenen Alltag sowie auf die Beziehung zu den Pflegebedürftigen. So meint ein Sohn, dass er sich vor Ort niemals «nur» zeitweise kümmern könnte. Er würde – auch aus Pflichtgefühl – die gesamte Freizeit in Betreuung und Pflege investieren. Die Distanz erlaube ihm, sich emotional abzugrenzen, zu verschnaufen. Andere macht die geografische Ferne erst kreativ: Sie erkennen das Netzwerk in der Nähe und aktivieren es. Ebenso schöpfen sie die neuen Kommunikationstechnologien aus.
Potenzial nutzen und fördern
Da die Distance Caregiver nicht immer physisch anwesend sind, laufen sie oft Gefahr, als Teil des Unterstützungsnetzwerkes übersehen zu werden. Ihr Beitrag für Wohlbefinden und Lebensqualität der Hilfebedürftigen geht so verloren. Darum ist die Sensibilisierung der Gesundheitsfachpersonen zentral – ein verbesserter Informationsfluss dient schliesslich auch aus der Ferne der Lebensqualität der Angehörigen. Ebenso sind Arbeitgeber gefordert, die Vereinbarkeit von Betreuung aus der Ferne und Berufstätigkeit zu verbessern. Entlastend wirkt etwa die Möglichkeit, den Vater mit Demenz zur für ihn «besten» Tageszeit anzurufen oder während den Öffnungszeiten behördliche Abklärungen zu erledigen. Weitere Lösungsansätze sollen aufgrund der DiCa-Projektergebnisse zusammen mit Partnerbetrieben erarbeitet werden.
Nahe wohnende Angehörige, die sich verbindlich kümmern können, werden immer seltener. Oft ist viel biografisches Wissen bei den Angehörigen da. Besonders bei Menschen mit Demenz ist dieses auch aus der Distanz sehr wertvoll, um eine bedürfnisgerechte Hilfe vor Ort zu gestalten.
Distance Caregiving: Das Sorgen aus der Ferne
Zwischen 15 und 9000 Kilometer trennen die insgesamt 14 interviewten Distance Caregiver in der Schweiz (je sieben Frauen und Männer) geografisch von ihren Liebsten. In fünf Fällen hat die bedürftige Person eine Demenz.
Das Projekt ist eine binationale Kooperation der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg (D) und Careum Forschung (CH). 35 weitere Interviews wurden mit Distance Caregivern in Deutschland geführt. Ausserdem führte das Projektteam zahlreiche Experteninterviews mit Fachpersonen aus den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft und soziale Sicherheit.
Kommentare