Anneliese (58) erlebt, dass seltenere Besuche nicht weniger Nähe bedeuten.
Als Mutter Ruth Trümpi zu Beginn der Demenzerkrankung noch zuhause wohnte, sah Sohn Ueli seine Aufgabe darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen. Er beseitigte etwa die baulichen Hürden im Haus, markierte farblich Waschmaschinenknöpfe. Tochter Anneliese als engste Bezugsperson war hingegen für alles «Persönliche» zuständig, wie etwa Kleider kaufen und wöchentlicher Waschtag. Dazu reiste sie jeden Mittwoch aus dem Solothurnischen nach Winterthur. Sie war diejenige, die irgendwann auf den Umzug ins Heim drängte. Sohn Noldi dazu: «Am Familientreffen hielt ich mich zurück, weil ich ja Mutter seltener als die anderen gesehen habe. Ich wünschte jedoch, sie hätte länger zuhause bleiben können.»
Seit 2012 wohnt die Mutter im Heim. Inzwischen ist Ueli zum Hauptkoordinator geworden. Er selbst sieht sich durch die Nähe privilegiert, weil er spontan vorbeigehen kann. Noldi schätzt den zweistündigen Weg, während dem er sich sehr bewusst auf die Begegnung einstellt. Häufiger als alle vier bis sechs Wochen liegt mit Beruf und kleinen Kindern nicht drin. Anneliese stellt fest: «Eigene gesundheitliche Probleme ermöglichen mir nur noch monatliche Besuche. Es ist aber eine neue, vielleicht auch krankheitsbedingte Nähe entstanden, die unserer Beziehung eine andere Qualität gibt.»
Möglichst oft solle die Mutter Besuch kriegen, meinen alle, aber nicht von allen gleichzeitig. Sonst sei sie überfordert. Damit das klappt, hatte Noldi vor Jahren einen Google-Kalender eingerichtet. Inzwischen sprechen sie sich telefonisch oder per Mail ab. Jeder berichtet jeweils, wie’s war, und verschickt Fotos. Beide entfernten Geschwister finden, Ueli informiere ausführlich. Sonst könne man ja jederzeit nachfragen, meint Noldi.
Hängt nun wohnortsbedingt alles an Ueli? Er widerspricht: «Das Finanzielle könnte ich zum Beispiel abgeben, aber ich habe Freude an meinen Aufgaben. Jeder trägt so bei, wie er oder sie kann. Ich fühle mich von meinen Geschwistern emotional gut gestützt. Ausserdem kann ich mich für viele Fragen ans Heimpersonal wenden.» Noldi: «Ich bin mir unsicher, ob sich Ueli immer meldet, wenn er Hilfe braucht.» Anneliese: «Es beruhigt mich enorm, dass Ueli sich so engagiert. Er nimmt sich auch immer Zeit zu erzählen.» Ueli erlebt ebenso von der jüngsten Schwester Helen Unterstützung, die für ein Gespräch unabkömmlich ist. Auch sie wohnt in der Nähe. «Sie ergänzt mich emotional», meint er, «mir gelingt das sachliche Organisieren einfacher.» Aus der Ferne nimmt Anneliese ihre Schwester als weniger präsent wahr, meint aber: «Wäre Ueli verhindert, würde sie die Bezugsperson für das Heim werden. Oder dann würde ich Mutter in die Nähe holen wollen.» Über einen Punkt sind sich jedoch alle drei sicher: Im Notfall stehen alle vier auf der Matte in Winti.
Der Beitrag ist aus drei getrennten Interviews im Winter 2018 entstanden
Kommentare