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Mann mit Demenz sitzt mit seiner Frau auf einer Bank

27. Januar 2023

Demenzspezifische Pflege braucht Zeit und Finanzierung

In der Schweiz leben rund 150’000 Personen mit Demenz. Fast die Hälfte der Personen, die in Alters- und Pflegeheimen wohnen, ist von einer Demenzerkrankung betroffen. Im Jahr 2050 sind voraussichtlich 315’400 Menschen an Demenz erkrankt, denn der grösste Risikofaktor ist das Alter.

 

Menschen mit Demenz brauchen – wie andere betagte Menschen – verschiedene Pflegeleistungen. Sie brauchen zudem vor allem krankheitsbedingtspezifische Leistungen, die mit einem erhöhten Zeitbedarf verbunden sind:
 

  • Da Menschen mit Demenz ihr Erinnerungsvermögen zunehmend verlieren, muss immer wieder eine Beziehung aufgebaut werden, bevor eine sich wiederholende Pflegeleistung erneut durchgeführt werden kann. Lässt man diesen Beziehungsaufbau ausser Acht, besteht Gefahr, dass die Person eine Pflegeleistung verweigert, schreit oder ein aggressives Verhalten zeigt. Dies deshalb, weil sie sich nicht an die Pflegefachperson erinnert, nicht mehr weiss, wo sie ist oder nicht versteht, warum sie zum Beispiel duschen soll, usw.
     
  • Da Menschen mit Demenz sich im Verlauf der Erkrankung nicht mehr verbal ausdrücken können und sie auch die Personen aus ihrem Umfeld nicht mehr verstehen, muss sich die Kommunikation an der Lebenswelt der Menschen mit Demenz orientieren und auf diese zugeschnitten sein.
     
  • Menschen mit Demenz brauchen vorwiegend Anleitung und Unterstützung bei körperbezogenen Pflegemassnahmen wie z. B. beim Waschen, An- und Auskleiden oder beim Essen. Mit einer solchen Unterstützung bleiben ihre noch vorhandenen Fähigkeiten länger erhalten. Beim Essen ist es z. B. wichtig, dass Menschen mit Demenz angeleitet werden selbst zu essen – mit Besteck oder mit den Händen.
  • Menschen mit Demenz brauchen eine geeignete Unterstützung im Umgang mit ihren krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten. Fast alle Erkrankten leiden mit teilweise unterschiedlicher Intensität unter Ängsten, Wahnvorstellungen, Desorientierung, Niedergeschlagenheit, Apathie, Appetitstörung, «aggressivem» Verhalten, Unruhe, usw. Das Pflegepersonal muss demenzspezifisch geschult sein, um angemessen mit diesen Verhaltensauffälligkeiten umgehen zu können.
  • Mit dem Einsatz von nichtmedikamentösen Interventionen können viele Symptome und Verhaltensauffälligkeiten gelindert und ein wesentlicher Beitrag zur Lebensqualität der Erkrankten geleistet werden. So tragen z. B. Musiktherapie, tiergestützte Therapie oder angepasste Bewegungstherapie viel zu einem guten Wohlbefinden bei.

Um die an Demenz erkrankten Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen kompetent und gut pflegen und betreuen zu können, braucht es genügend Personal. Bei der Mehrheit der Heime ist die Personalsituation bereits heute angespannt. Aktuell fehlen in der Schweiz rund 13’500 Pflegefachkräfte sowie Ärztinnen und Ärzte. Bis 2030 rechnet das Obsan mit einem Pflegekräftemangel von 20’000 Personen. Gibt es zu wenig Personal, kann die zeitintensivere Demenzpflege nicht gewährleistet werden.

Um demenzerkrankte Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen adäquat pflegen und betreuen zu können und damit z. B. auch Verhaltensauffälligkeiten zu mindern oder zu verhindern, braucht es spezifisches Wissen. Das Pflege- und ärztliche Personal muss zwingend über demenzspezifische Kenntnisse verfügen. Mehr als die Hälfte der Personen, die in einem Alters- und Pflegeheim wohnen, sind an Alzheimer oder an einer anderen Demenzform erkrankt. Deshalb muss dem Thema Demenz dringend in der pflegerischen sowie medizinischen Aus-, Weiter-, und Fortbildung mehr Platz eingeräumt werden. Dies ist auch in den entsprechenden medizinischen Richtlinien der SAMW festgehalten: «Für die professionelle Behandlung und Betreuung von Patientinnen mit Demenz sind spezifisches Wissen und spezifische Kompetenzen im Umgang mit emotionalen und Verhaltensstörungen zwingend notwendig.»

In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz haben nichtmedikamentöse Interventionen immer Vorrang. Da eine Verhaltensauffälligkeit unterschiedliche Ursachen haben kann, ist eine gründliche somatische Abklärung unabdingbar.

Vor der Anwendung einer medikamentösen Therapie müssen insbesondere bei Menschen mit Demenz zwingend die vorher eingenommenen Medikamente überprüft werden. Neuroleptika dürfen nur sparsam, zeitlich beschränkt und immer in der kleinstmöglichen Dosierung verabreicht werden. Da sie die Mortalitätsrate und das Sturzrisiko erhöhen sowie beträchtliche Nebenwirkungsrisiken aufweisen, muss der erwartete Nutzen gegen die möglichen Risiken und Nebenwirkungen abgewogen werden.

Wenn immer möglich ist zu vermeiden, eine an Demenz erkrankte Person aus ihrem gewohnten Umfeld in ein Spital zu verlegen. Dies stellt für sie eine sehr grosse Belastung dar und kann Unruhe, Angst, Orientierungslosigkeit oder gar ein Delir auslösen. Es muss alles darangesetzt werden, die Vorabklärungen und Behandlungen ambulant durchzuführen.

Für Menschen mit Demenz ist es zentral, dass sie sich in Räumlichkeiten mit eigenen Bildern, Fotos, Tieren, usw. aufhalten können. Diese geben ihnen ein Gefühl von Vertrautheit und wirken beruhigend. Auch soziale Kontakte sind für ihr Wohlbefinden zentral. Wird eine Person mit Demenz in eine Umgebung gebracht, die sie nicht kennt, wo sie keinen Orientierungspunkte hat, und in der keine oder nur wenige Kontakte mit anderen Menschen möglich sind, löst dies extreme Angstzustände aus und kann schwerwiegende Folgen haben.

Zwangsmassnahmen wie etwa die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in einem Isolationszimmer oder medikamentöse Beruhigungsmassnahmen z. B. in Form von Sedativa oder Neuroleptika dürfen nur im Ausnahmefall angewendet werden, wenn die betroffene Person sich und/oder andere Personen ernsthaft gefährdet und wenn andere, weniger einschneidende Massnahmen wirkungslos sind. Solche Interventionen können für demenzerkrankte Personen schwerwiegende Folgen haben. Unter keinen Umständen dürfen solche Massnahmen deshalb angeordnet werden, weil die Person den Alltag des Pflegeheims stört oder um die Betreuung und Pflegearbeit zu erleichtern.

Die spezifisch krankheitsbedingten Pflegeleistungen, die Menschen mit Demenz brauchen, sind weder in der Krankenpflege-Leistungsversordnung (KLV), noch in den Pflegemessinstrumenten berücksichtigt und abgebildet. Der unabdingbar krankheitsbedingte erhöhte Zeitbedarf in der Versorgung von Menschen mit Demenz führt deshalb im ambulanten und stationären Bereich regelmässig zu Auseinandersetzungen zwischen Krankenversicherern und Leistungserbringern.

Die Motion Graf «Finanzierung von Pflegeleistungen für Menschen mit Demenz» (19.4194) hatte zum Ziel, die nichtakzeptierbare Situation in der Demenzversorgung zu verbessern. Sie forderte, dass der krankheitsbedingte Mehraufwand der Pflege von Menschen mit Demenz adäquat von der Krankenversicherung übernommen wird und damit ihrem berechtigten Anspruch gerecht wird. In der Herbstsession 2021 hatte der Nationalrat sich deutlich für die Motion ausgesprochen. In der Herbstsession 2022 hat sie aber der Ständerat – wie auch der Bundesrat – abgelehnt. Mehr Information zur Motion 19.4194 von Maya Graf

 

Indem die Politik ihre Verantwortung in Bezug auf die krankheitsbedingten Bedürfnisse der Menschen mit Demenz nicht wahrnimmt, riskieren das Parlament und der Bundesrat, dass Menschen mit Demenz keine qualitativ hochstehende Pflege erhalten.

Der Bundesrat wäre gut beraten, dafür zu sorgen, das Ziel 4 der Nationalen Demenzstrategie 2014-2019 «Die angemessene Entschädigung und die finanzielle Tragbarkeit von bedarfsgerechten Leistungen für Menschen mit einer Demenzerkrankungen sind gewährleistet» umzusetzen und damit endlich gute Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Alters- und Pflegeheime sowie weitere Leistungserbringer ihre demenzspezifische Pflege und Betreuung auch abrechnen können.

 

Alzheimer Schweiz
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ist ein gemeinnütziger Verein mit über 10 000 Mitgliedern und rund 130 000 Gönnerinnen und Gönnern. Die Organisation ist in jedem Kanton mit einer Sektion vertreten. Seit über 30 Jahren unterstützt Alzheimer Schweiz kompetent Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und Fachpersonen aus der Pflege und Betreuung.