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Mann mit Demenz sitzt mit seiner Frau auf einer Bank

23. Juli 2024

Angehörige von Menschen mit Demenz als Spitex-Angestellte

Management Summary

Die unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit von Angehörigen von Menschen mit Demenz stellt eine wesentliche Unterstützung für das Schweizer Gesundheitssystem dar, wobei diese Arbeit oft unterbewertet bleibt. In letzter Zeit wird vermehrt die Anerkennung und Unterstützung dieser Angehörigen durch vergütete Anstellungen bei Spitex-Organisationen diskutiert. Dieses Modell kann jedoch nicht pauschalisiert werden und erfordert immer eine sorgfältige Einzelfallprüfung sowie eine standardisierte, schweizweite Umsetzung von Kriterien, um Chancengleichheit und Fairness zu gewährleisten. Eine solche Anstellung bietet Vorteile wie finanzielle Unterstützung und soziale Anerkennung, setzt jedoch klare Rahmenbedingungen voraus, damit diese nicht zu einer (weiteren) Belastung für die pflegenden Angehörigen wird.


Für Alzheimer Schweiz ist es wichtig: Eine Anstellung von Angehörigen bei einer Spitex-Organisation für die Pflege von Menschen mit Demenz kann in Einzelfällen eine gute Lösung für die Betroffenen sein, löst jedoch das wichtige Problem der Abgeltung von Betreuungsleistungen noch immer nicht. Angehörige sind daher grundsätzlich nicht als «Lösung» des schweizweiten Fachkräftemangels zu verstehen. Sie müssen einen verbindlichen Arbeitsvertrag und eine angemessene Vergütung erhalten. Im Rahmen der Fürsorgepflicht der anstellenden Organisation benötigen fachlich nicht Vorgebildete zwingend eine Grundausbildung und müssen begleitet werden, um die Pflegequalität zu gewährleisten. Letztlich bedarf es politischer Massahmen, um die Rahmenbedingungen für die Spitex-Anstellung von pflegenden Angehörigen schweizweit zu vereinheitlichen und transparent zu regeln, sowie weitere finanzierte Entlastungsmöglichkeiten.


Ausgangssituation

Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz leisten viel unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit. Häufig wird ihr Einsatz zu wenig erkannt und geschätzt. Gemäss der Demenzkosten-Studie (Alzheimer Schweiz, 2019) verursachen Alzheimer und andere Demenzerkrankungen in der Schweiz Gesamtkosten von jährlich 11 Milliarden Franken. Die Hälfte dieser Kosten, d.h. 5.5 Milliarden bzw. 47 Prozent, übernehmen die Angehörigen durch ihre unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit und entlasten damit das Gesundheitssystem. Es ist deshalb entscheidend, die bedeutende Rolle der Angehörigen anzuerkennen, ihre Arbeit zu würdigen und Möglichkeiten zu schaffen, die ihr Engagement unterstützen.

Als eine Lösung wird aktuell die Frage ihrer vergüteten Anstellung bei einer Spitex-Organisation diskutiert. Manche Spitex-Organisationen betreiben für diese Modell zum Teil «aggressives» Marketing, andere wurden ausschliesslich mit diesem Geschäftsmodell gegründet. Die Handhabung ist uneinheitlich und intransparent.

Ob und wenn ja in welchem Umfang jedoch eine solche Anstellung sinnvoll ist, hängt stark vom Einzelfall ab. Bisher fehlen Langzeituntersuchungen zu Angehörigen als Spitex-Angestellte. Daher ist es zentral, dass solche Modelle grundsätzlich subsidiär zur professionellen ambulanten Versorgung genutzt werden. Damit sie für alle Beteiligten einen Mehrwert bieten, müssen sie bestimmten Kriterien genügen, die schweizweit einheitlich umzusetzen sind, um Chancengleichheit zu gewähren.
 

Grundsätzliche Rahmenbedingungen

  • Demenzpflege und -betreuung ist aufgrund des Krankheitsbilds eine körperlich wie psychisch grosse Herausforderung und wird mit dem Fortschreiten der Krankheit eine 24-Stunden-Aufgabe. Aufgrund des progredienten Verlaufs der Krankheit sind die Angehörigen meistens über einen längeren Zeitraum in der Rolle einer Betreuungs-/Pflegeperson. Sie sind jedoch durch ihre familiäre Verbindung zur pflegebedürftigen Person mit Demenz keine Freiwilligen, da sie sich dieser Beziehung nicht entziehen können.
  • Die Mehrheit der Mensch mit Demenz ist über 75 Jahre alt, entsprechend sind ihre Angehörigen (z.B. die/der Ehepartner:in) oft in einem ähnlichen Alter mit entsprechenden eigenen gesundheitlichen Herausforderungen. Bevor eine:r Angehörige:r sich bei einer Spitex-Organisation anstellen lässt, gilt es daher seriös abzuklären, ob sowohl ihre/seine physische als auch psychische Situation eine solche, zusätzliche rechtliche, vertragliche Verpflichtung zulässt, oder ob nicht eine Entlastung durch eine Spitex-Fachperson die für alle bessere Alternative ist.

Entscheiden sich Angehörige von Menschen mit Demenz bei einer Spitex-Organisation angestellt zu arbeiten, muss sichergestellt werden, dass ihre Anstellung nicht zu einem «Geschäftsmodell» für die Spitex-Organisation wird, indem sie entweder (zu ausschliesslich) den Fachkräftemangel kompensiert oder die effektive Entschädigung in einem unangemessenen Verhältnis zu den Einnahmen der anstellenden Organisation steht. Auch darf die Entschädigung der Angehörigen nicht so ausgestaltet sein, dass sie finanzielle Anreize schafft, die dazu führen, dass Angehörige bei bereits hoher Belastung zusätzliche Aufgaben übernehmen und sich über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus engagieren. 


Angehörige benötigen einen verbindlichen Arbeitsvertrag mit fairer Bezahlung, der sie auch rechtlich absichert: 

  • Gemäss Rechtssprechung (Urteil K 156/04 vom 21. Juni 2006 des Eidg. Versicherungsgerichts; Urteil 9C_597/2007 des Bundesgerichts) ist eine Anstellung von pflegenden Angehörigen ohne Pflegefachdiplom grundsätzlich zulässig. Seit April 2023 gelten gemäss den Administrativverträgen, die alle administrativen Abläufe zwischen den Spitex-Organisationen und den Krankenversicherern regeln, neben dem bisherigen Kurs in Pflegehilfe neu auch eine andere, gleichwertige Mindestausbildung als alternative Qualifikation.
  • Pflegende Angehörige ohne Pflegediplom können nur für Grund-, nicht aber für Behandlungspflegeleistungen von Spitex-Organisationen angestellt werden (BGE 145 V 161, April 2019).

Wichtig: Angehörige von Menschen mit Demenz müssen frei entscheiden können, ob sie/er sich bei einer Spitex-Organisation anstellen lassen möchte. Auch Spitex-Organisationen entscheiden selbst, ob sie Angehörige anstellen wollen. Es gibt kein Recht auf eine solche Anstellung für Angehörige. Zudem sind zusätzliche kantonale Voraussetzungen zu beachten.

 

Die Anstellung von Angehörigen bei einer Spitex-Organisation kann folgende Vorteile bieten: 

  • Pflegende Angehörige sind noch immer mehrheitlich Frauen. Viele reduzieren ihr Arbeitspensum, um die Pflege der Menschen mit Demenz zu gewährleisten. Dies mit den entsprechenden finanziellen Folgen aktuell und auch für ihre Altersvorsorge. So bietet eine Entlöhnung ihrer Pflegeleistungen eine Abfederung (keinen vollwertigen Ersatz, s.u.) der finanziellen Einbussen.
  • Für Angehörige, die nicht berufstätig sind oder nur in einem kleinen Teilzeitpensum arbeiten, kann eine solche Anstellung die sozialversicherungsrechtliche Situation und bei Erreichung der Eintrittsschwelle für die Pensionskasse auch die Altersvorsorge verbessern. Als Spitex-Angestellte erweitern sie möglicherweise ihre bisherige Berufserfahrung, setzen ihre Berufstätigkeit fort oder nehmen sie wieder auf, was sich positiv auf ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt auswirkt. Auf allfällige persönliche Risiken (z.B. Sozialversicherungsgrenze) muss hingewiesen werden.
  • Der durch die Arbeitsorganisation vieler Spitex-Organisationen gegebene regelmässige Wechsel der Kontaktpersonen erschwert die Betreuung von Menschen mit Demenz häufig. Angehörige, d.h. ihnen vertraute Personen tragen dazu bei, die selbständige Alltagsgestaltung bestmöglich zu erhalten und so gegebenenfalls einen Heimeintritt hinauszuzögern.
  • Angehörige kennen die erkrankte Person, ihre Biografie, Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen meist sehr gut. Sie können dieses Wissen in der Betreuung und Pflege einsetze, bisherige Gewohnheiten aufrechterhalten und so zum Wohlbefinden der Menschen mit Demenz wesentlich beitragen.

 

Damit diese Vorteile jedoch für alle Beteiligten realisiert werden können, fordert Alzheimer Schweiz zwingend die Beachtung der folgenden Punkte: 

  • Eine Spitex-Anstellung kann ein Zeichen der Anerkennung sein und einen Erwerbsausfall teilweise abfedern, muss aber im Einzelfall sorgfältig geprüft werden.
  • Eine Anstellung kann nur für Pflegeleistungen (gemäss KLV) erfolgen und nicht für Betreuungsleis-tungen. Dies sind oft nur wenige Stunden in der Woche. Mit den Einnahmen kann daher kein regulä-res Erwerbseinkommen ersetzt werden. Hier braucht es vorgängig transparente Beratung, denn bei Aufgabe der gesamten bisherigen Erwerbsarbeit sind AHV- und Pensionskassenbeiträge allenfalls nicht mehr voll gewährleistet sind.
  • Die anstellende Spitex-Organisation hat rechtlich die Verantwortung für den Pflegebetrieb und eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Angestellten, aber auch gegenüber den Pflegebedürftigen:
    • Zum Schutz der Angehörigen ist eine Grundausbildung für fachlich nicht Vorgebildete zwingend erforderlich, auch wenn Angehörige und Erkrankte bereits ein eingespieltes Team sind. Zum einen lernen sie, wie sie mit schwierigen Situationen besser umgehen, die Pflegeleistungen gesundheitsschonend ausführen und die Autonomie der Erkrankten bestmöglich fördern können. Zum anderen lernen sie ihre eigenen Grenzen besser zu erkennen.
    • Damit die pflegende Angehörige nicht zusätzlich belastet sind, müssen sie für eine solche Ausbildung bezahlt sein und ebenso ist eine bezahlte Betreuung der Person mit Demenz während der Ausbildungszeit zur Verfügung zu stellen.
    •  Angehörige von Personen mit Demenz sind besonders gefährdet, ihre eigene Überlastung zu spät zu erkennen. Oft nutzen sie Entlastungsangebote nicht oder erst spät. Eine Spitex-Anstellung kann die Angehörigen zusätzlich belasten. Es gilt sicherzustellen, dass die anstellende Organisation den Einsatz angemessen begleitet. Eine übermässige Belastung der Angehörigen erhöht das Risiko für eine eventuell notfallmässige Heimeinweisung.
    • Zwingend notwendig ist auch, dass die Fallführung durch eine diplomierte Pflegefachperson erfolgt, welche die Familie engmaschig und regelmässig besucht, eine differenzierte Bedarfsklärung vornimmt und gemeinsam mit den Angehörigen die Situation regelmässig einschätzt.
       
  • Im Sinne der Gleichberechtigung sind die Anstellungsbedingungen von pflegenden Angehörigen als Spitex-Angestellte schweizweit zu vereinheitlichen und transparent zu regeln. Dies gilt auch für die Anstellung von Personen über dem AHV-Alter, die bisher kantonal sehr unterschiedlich geregelt sind.
  • Da der Beitritt zum Administrativvertrag auf freiwilliger Basis erfolgt, müssen insbesondere die Mindestqualifikationen schweizweit geregelt werden und dürfen nicht von diesem abhängig sein, da dies sonst die Möglichkeit schaffen würde, sie zu umgehen. Daher müssen auch auf politischer Ebene klare Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Entlastungsmöglichkeiten finanziert und betreuende Angehörige entschädigt werden können, die auf Grund ihres pflegerischen Engagements einen Erwerbsnachteil haben. 

Eine Anstellung von Angehörigen bei einer Spitex-Organisation für die Pflege von Menschen mit Demenz löst jedoch ein weitergehendes wichtiges Problem in ihrer Versorgung noch immer nicht:  

Gerade bei Menschen mit Demenz sind neben der Pflege vor allem Betreuungsleistungen notwendig, die einen grossen Aufwand bedeuten. Nach wie vor sind jedoch die Kosten für diese Leistungen, wie beispielsweise Tagesstrukturen oder Entlastungsdienste, nicht durch die Grundversicherung gedeckt. Heute werden diese Betreuungsleistungen nur durch entsprechende Zusatzversicherungen abgegolten und sind somit Personen vorbehalten, die sich eine solche leisten können, oder die Leistungen selbst bezahlen können. Insbesondere Tagesstrukturen können von den Leistungserbringenden nicht kostendeckend angeboten werden, was den Anreiz für den Ausbau solcher Strukturen deutlich reduziert und die Versorgungs- und Lebenssituation für Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen benachteiligt.  


Vernehmlassungsorgane: 
Zentralvorstand, Alzheimer Schweiz 
Sektionspräsident:innen 
Bern, Juni 2024 


Kontakt: 
Dr. Stefanie Becker 
Direktorin Alzheimer Schweiz 
stefanie.becker(at)alz.

Alzheimer Schweiz
Gurtengasse 3
3011 Bern
alzheimer-schweiz.ch

ist ein gemeinnütziger Verein mit über 10 000 Mitgliedern und rund 130 000 Gönnerinnen und Gönnern. Die Organisation ist in jedem Kanton mit einer Sektion vertreten. Seit über 30 Jahren unterstützt Alzheimer Schweiz kompetent Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und Fachpersonen aus der Pflege und Betreuung.