Im Gespräch: Dr. Ansgar Felbecker, Präsident Swiss Memory Clinics
0:00:00 Einführung
0:01:58 Ist der Wirbel berechtigt?
0:03:07 Wie beurteilt Swiss Memory Clinics den Zulassungsentscheid der FDA?
0:04:13 Was ist an der Zulassung umstritten?
0:08:55 Erhalten wir die geistige Leistungsfähigkeit nach Eliminierung der wichtigsten Krankheitsursache?
0:12:51 Wie viele Personen in der Schweiz erfüllen die Bedingungen für eine Behandlung
0:14:37 Sind wir in der Schweiz bei den Frühdiagnosen schon weit genug?
0:18:26 Zahlen die Krankenkassen für die umfangreichen (und für viele auch beängstigenden) Voruntersuchungen?
0:20:02 Was sind die Nebenwirkungen, wie gravierend sind sie und wie müsst e man mit diesen umgehen?
0:22:46 Was muss der Hersteller jetzt konkret unternehmen, um den klinischen Nutzen nachzuweisen?
0:24:19 Könnte eine Studie nicht auch schneller durchgeführt werden?
0:25:33 Hat die Zulassung kontraproduktive Effekte auf andere Studien?
0:28:06 Wo stehen andere Studien?
0:30:51 In China wurde bereits letztes Jahr ein Alzheimer-Medikament zugelassen. Was ist davon zu halten?
0:32:58 Müssen wir einen Behandlungstourismus befürchten?
0:33:53 Welchen Entscheid würdest du dir wünschen?
0:35:32 Was wird unter «Off-Lable-Use» verstanden? Wäre das für das neue Medikament denkbar?
0:36:13 Gibt es noch was Wichtiges zu ergänzen?
Interview zum Nachlesen (gekürzte Version)
Wie beurteilt Swiss Memory Clinics den Zulassungsentscheid der FDA?
Wie viele andere Experten waren auch wir etwas überrascht. Einerseits über die Zulassung an sich, da es vorher durchaus auch negative Einschätzungen von Experten gab – auch bei der FDA. Hauptsächlich aber, weil die Zulassung anfangs sehr breit für alle Menschen mit Demenz erteilt wurde, was wissenschaftlich nicht zu begründen war. Das wurde mittlerweile korrigiert.
Was ist an der Zulassung umstritten?
Es gibt im Wesentlichen zwei Kritikpunkte: Die unfertigen Phase-3-Studien und die widersprüchlichen Studienergebnisse. Hierzu muss man wissen, dass zwei grosse, weltweite Phase-3-Studien durchgeführt wurden. Aufgrund einer negativen Zwischenanalyse wurde die Studien vorzeitig beendet. Die Daten der nachträglichen Auswertungen, die zur Zulassung geführt haben, sind sicher gut. Aber eine unfertige Studie wird in der wissenschaftlichen Gemeinschaft weltweit nicht gerne gesehen und löst einen faden Beigeschmack aus. Der zweite problematische Punkt an diesen Studien sind die unterschiedlichen Ergebnisse. Nur eine der zwei praktisch identisch angelegten Studien erzielte ein gutes Ergebnis bei der Verzögerung der Demenz. Über eine Subgruppenanalyse wurde jedoch noch ein positiver Aspekt gefunden: Patienten mit einer hohen Dosis des Medikaments haben auch in der negativen Studie etwas besser angesprochen. Wahrscheinlich führte das letztlich zum Zulassungsentscheid der FDA.
Das neue Medikament entfernt erfolgreich die Amyloid-Ablagerungen im Gehirn. Nach der Eliminierung dieser wichtigsten Krankheitsursache sollten doch die geistige Leistungsfähigkeit erhalten bleiben?
Genau das hat die wissenschaftliche Gemeinschaft gehofft und nun stellt sich die Frage, warum es nicht zu einem überzeugenden klinischen Nutzen in beiden Studien kam. Die Antwort auf diese Frage liegt wohl in der Komplexität der Krankheit. Die Ursache für Demenz ist multifaktoriell und liegt nicht nur in den Amyloid-Proteinen. Man kann sich das Ganze wie Dominosteine vorstellen. Wenn ein Stein angestossen ist, dann fallen nach und nach alle Steine um. Nur einen Stein wiederaufzustellen, nützt nicht viel. Um wirklich in den Verlauf dieser Erkrankung einzugreifen, muss man an einem Punkt eine Blockade einsetzen, wo die Steine noch stehen. Es kann sein, dass diese Amyloid-Ablagerungen relativ am Anfang der Erkrankung stehen und dadurch weitere Faktoren angestossen werden. Wenn wir hier zu spät eingreifen, dann ist das Umfallen der weiteren Steine nicht mehr aufzuhalten. Das ist eine mögliche Erklärung, warum das Medikament in den Studien nicht überzeugt, obwohl das Amyloid im Gehirn abgebaut wird.
Wie viele Personen in der Schweiz erfüllen die Bedingungen für eine Behandlung mit dem neuen Medikament?
Das kann man nur schätzen, denn das hängt stark davon ab, wie viele Personen eine medizinische Abklärung vornehmen. Wir gehen in der Schweiz von etwa 30'000 Demenzdiagnosen pro Jahr aus. Davon sind etwa zwei Drittel Alzheimer-Patienten. Wenn jetzt nur Patienten in einem sehr frühen Stadium ohne Vorerkrankungen behandelt werden, reduziert sich diese Zahl nochmals deutlich. Letztendlich kommt es auf die Zulassungsbedingungen in der Schweiz an, falls überhaupt eine erteilt wird.
Eine Frühdiagnose wird sehr wahrscheinlich eine Voraussetzung sein. Sind wir da in der Schweiz schon weit genug?
Ich denke schon. Wir haben in der Schweiz ein hervorragendes Netzwerk an Memory Clinics. Allein unser Verein Swiss Memory Clinic zählt 46 Mitglieder, das ist weltweit ein vorbildliches Netzwerk. Wir haben die Kapazitäten, eine grössere Anzahl an Patienten abzuklären. Die Herausforderung wird sein, die Leute frühzeitig für eine Abklärung zu gewinnen, und zwar bereits bei leichten Symptomen, wenn sie noch gut im Alltag zurechtkommen. Um das zu erreichen, braucht es ein gutes Zusammenspiel mit den Hausärzten, den Angehörigen und den Betroffenen selbst.
Für die Behandlung mit dem neuen Medikament sind umfangreiche (und für viele auch beängstigende) Voruntersuchungen notwendig. Werden diese Kosten von den Krankenkassen übernommen?
Sowohl die Nervenwasser- wie auch die PET-Untersuchung werden von der Grundversicherung getragen, sofern die Bedingungen dazu erfüllt sind. Da sind wir in der Schweiz auch weiter als in vielen anderen Ländern. Angst vor den Behandlungen braucht es nicht: Beide Voruntersuchungen sind Routineeingriffe, die wenig schmerzhaft sind.
Was sind die Nebenwirkungen des Wirkstoffs, wie gravierend sind sie und wie müsste man mit diesen umgehen?
Das ist eine wichtige Frage, die ich momentan noch unter Vorbehalt beantworten muss, da wir noch nicht viel Erfahrung haben. Manchmal erkennt man seltene Nebenwirkungen auch erst in der Anwendung, wenn wirklich viele Tausende Patienten damit behandelt wurden. Stand heute wissen wir aus den Studien, dass bei etwa 30 Prozent der Patienten Auffälligkeiten im MRI des Gehirns gesehen wurde. Die verursachen nicht unbedingt Symptome, bereiten aber einem Neurologen wie mir schon auch ein bisschen Sorgen. Es kann zu Schwellungen des Gehirns und in manchen Fällen auch zu Einblutungen kommen. Die sind klein und machen den meisten Patienten keine Probleme, aber sie müssen sehr sorgfältig beobachtet werden. Sollte also diese Therapie in der Schweiz zugelassen werden, gehört sie in die Hände von Spezialisten.
Welchen Entscheid würden Sie sich wünschen?
Im beruflichen Alltag arbeite ich jeden Tag mit Menschen mit Demenz. Wenn man im Beratungsgespräch an den Punkt der Medikamente kommt, ist es immer eine frustrierende Situation. Natürlich wäre es schön, wenn wir Patienten, die einer aufwändigen Behandlung zustimmen, etwas Neues anbieten könnten. Mein Wunsch wäre, dass Swissmedic zum Entschluss kommt, dass die Daten überzeugend genug sind für eine begrenzte Zulassung. Ich verlasse mich da 100-prozentig auf die Swissmedic und wenn der Entscheid negativ ausfällt, dann ist das auch akzeptabel.
Gibt es noch was Wichtiges zu ergänzen?
Mir kommen bei dieser ganzen Diskussion um den Wirkstoff Aducanumab immer die bestehenden Möglichkeiten zu kurz. Wir können auch heute schon den Menschen mit Demenz viel anbieten, auch ohne hochwirksame Medikamente. Therapie heisst nicht nur Medikamente, sondern auch viele andere Massnahmen. Physiotherapie, Ergotherapie, Sprachtherapie und andere nichtmedikamentöse Therapien helfen, die kognitive Leistungsfähigkeit so lange wie möglich zu erhalten. Es lohnt sich also immer, Klarheit zu schaffen und bei Symptomen eine Abklärung zu machen.