Das Coronavirus verändert den Alltag von Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen und auch für Gesundheitsfachpersonen. Plötzlich sind sie mit Besuchseinschränkungen in Pflegeheimen bis hin zu Besuchsverboten oder geschlossenen Tageskliniken konfrontiert. Gleichzeitig ist der Schutz vor einer Infektion zentral, besonders bei Risikogruppen. Was sich für Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen und für Gesundheitsfachleute während der ersten Pandemie-Welle bewährt hat und wo in der aktuell zweiten Welle noch Handlungsbedarf besteht, darüber informieren wir mit dem Positionspapier «Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Menschen mit Demenz» .
Bern, 23. November 2020
In den vergangenen acht Monaten haben Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen besonders stark unter der Corona-Pandemie gelitten. Viele der Erkrankten sind auf die tägliche Unterstützung ihrer Angehörigen angewiesen, um so selbständig wie möglich zuhause leben zu können. Sie benötigen für ihr psychisches und physisches Wohlbefinden und für ihre bestmögliche Lebensqualität tägliche Routinen, den regelmässigen Kontakt und körperliche Nähe zu vertrauten Menschen – ob zuhause oder in der Langzeitpflege. Während der Pandemie waren diese wichtigen Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt, zeitweise durch Besuchsverbote und Quarantänevorschriften sogar gänzlich unmöglich geworden. Im Bemühen um grösstmöglichen Schutz vor Ansteckung rückten die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz oft in den Hintergrund oder wurden nicht gehört. Sorgen um die Liebsten, Isolation und Vereinsamung haben auf beiden Seiten psychisches Leid und vielfach auch die Verschlechterung der Gesundheit verursacht.
Behördliche Regeln werden kantonal unterschiedlich ausgelegt und auf veränderte Situationen jeweils regional angepasst. Schon für die breite Bevölkerung sind diese Unterschiede der Regeln oft nicht nachvollziehbar und teils nur schwer korrekt zu befolgen. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sehen sich darüber hinaus krankheitsbedingt mit zusätzlichen Schwierigkeiten in der Bewältigung der Corona-Situation konfrontiert. So fällt es Demenzkranken vor allem ab dem mittleren Stadium ihrer Erkrankung schwer, Anleitungen zur Händedesinfektion oder die Notwendigkeit zur Abstandregel zu verstehen. Aufgrund von Einschränkungen im Sprachvermögen ist es erschwert über mögliche Corona-Symptome Auskunft zu geben. Obwohl Menschen mit Demenz daher von der Pandemie besonders betroffen sind, wurden sie von den Behörden nicht explizit als Menschen mit besonderen Bedürfnissen erkannt und definiert, als Menschen in unserer Gesellschaft, die aufgrund ihrer Krankheit eine spezielle Unterstützung benötigen. So sahen die behördlichen Vorschriften in einem ersten Schritt weder besondere Hinweise noch mögliche Ausnahmen für Demenzerkrankte hinsichtlich der Maskenpflicht oder der Quarantänebestimmungen vor.
Die Angebote von Tages- und Nachtstätten wurden reduziert, Social Distancing-Regeln wurden eingeführt und die die Pflegeheime haben strenge Besuchseinschränkungen oder Besuchsverbote erlassen. Diese Massnahmen haben schwerwiegende Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden sowohl von Menschen mit Demenz als auch ihren Angehörigen. Die Verpflichtung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens hochaltriger und oft multimorbider Menschen und der Mitarbeitenden stellt in den Pflegeeinrichtungen einen hohen Wert dar. Alzheimer Schweiz ist sich bewusst, dass diese Verpflichtung angesichts der Pandemie immense Herausforderungen für die Pflegenden und Führungspersonen mit sich bringt. Unterdessen hat man aber auch erkannt, dass bei allen Entscheidung, die immer nur im Rahmen der jeweiligen Gegebenheiten vor Ort und vor dem Hintergrund der jeweils individuellen Situation der Bewohnerin, des Bewohners getroffen werden können, auch der psychischen Gesundheit Rechnung getragen werden muss. Die ethische Entscheidung muss beide Aspekte im Sinne eines ganzheitlichen Menschenbildes berücksichtigen. Alzheimer Schweiz setzt sich bereits seit Anfang der Pandemie für ein «kontrolliertes Besuchsmanagement» ein. So kann das Risiko einer Ansteckung durch Besucher einerseits kontrolliert, das der psychischen Isolation und Vereinsamung der Menschen mit Demenz andererseits vermindert werden. Eine solche Situation wie die Corona-Pandemie kann nur mit vereinten Kräften, d.h. Institutionen und Angehörigen gemeinsam bewältigt werden. Dennoch sehen sich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen vor besonderen Schwierigkeiten:
- Auswirkungen auf Demenzkranke. Menschen mit Demenz in Pflegeheimen wurden aufgrund der Besuchseinschränkungen und die fehlende Kommunikation durch Berührungen sozial isoliert. Gespräche via Skype oder Telefon sind für sie oft nicht anwendbar und ersetzen auch die persönlichen Besuche nicht. Alzheimer Schweiz hat zudem Rückmeldungen, dass sowohl Depressionen also auch aggressives Verhalten von Menschen mit Demenz während des Lockdowns, aber besonders auch während Quarantänesituationen, häufiger wurden. In manchen Fällen konnten Demenzerkrankte ihren gesetzlichen Vertreter nicht mehr erreichen. Darüber hinaus steigerten Probleme bei der Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln das Infektionsrisiko. Die fehlende Anregung und Förderung der verbleibenden geistigen Aktivität im Alltag aufgrund der Reduzierung oder Streichung von Unterstützungsdiensten hat auch häufig das Fortschreiten der Demenz beschleunigt und zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustands geführt.
- Auswirkungen auf die Angehörigen. Während der ersten Welle mussten die Angehörigen von zuhause lebenden Demenzkranken vielfach zusätzliche Betreuungs- und Pflegeaufgaben übernehmen, da die sonst genutzten Dienstleistungen wie Tagesstätten oder Betreuungsgruppen Corona bedingt nicht mehr zur Verfügung standen. Die Quarantäne- und Isolationsregeln haben diese Aufgaben zusätzlich erschwert. Zudem konnten die Angehörigen ihre im Pflegeheim wohnenden demenzkranken Familienmitglieder wegen den geltenden Besuchsverboten oder -einschränkungen kaum mehr besuchen, was die Aufrechterhalten der Beziehung mit dem Erkrankten oft verunmöglichte.
- Ausnahmen für Besuchsverbote. Alzheimer Schweiz und ihre kantonalen Sektionen haben spezifische Ausnahmen des Besuchsverbots für Menschen mit Demenz erreicht. Unsere Forderungen wurden schon früh in der Pandemie berücksichtigt: Mehrere kantonale Sektionen konnten ihre Standpunkte direkt bei den kantonalen Behörden einbringen, was dazu führte, dass Menschen mit einer Demenzerkrankung in der Ausnahmeregelung einiger kantonaler Richtlinien explizit mitberücksichtigt wurden. Gemeinsam mit unseren kantonalen Sektionen haben manche Pflegeheime gute Besuchslösungen gefunden.
- Erhalt der Angebote von Tagesstätten. Tagesstätten sind ein wichtiges Angebot zur Entlastung von Angehörigen von Menschen mit Demenz. Unklare Formulierungen in den Bestimmungen der ersten Pandemiewelle konnte Alzheimer Schweiz mittels einer Anfrage an das BAG klären: Tagesstätten auch für Demenzkranke, unter Einhaltung der Hygienemassnahmen, waren von den Einschränkungen nicht betroffen. Manche haben daraufhin ihre Tätigkeit wieder aufgenommen.
- Maskenpflicht. Menschen mit Demenz verstehen oft nicht, warum sie eine Maske tragen sollen und verweigern eine solche. Alzheimer Schweiz hat das BAG auf diese Problematik aufmerksam gemacht, so dass die besondere Situation von demenzerkrankten Personen berücksichtigt wird. Darüber hinaus stellt Alzheimer Schweiz eine Verständnis-Karte für Begleitpersonen und für Demenzerkrankte zur Verfügung, die darauf hinweist, dass eine Person mit Demenz aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht befreit ist.
- Unterstützung durch Tipps. Unser Beratungsteam hat viele nützliche Informationen erarbeitet und zusammengestellt, die hilfreich sind, um den Alltag von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen während der Corona-Pandemie zu gestalten. Dazu gehören zum Beispiel Tipps für eine gelingende Kommunikation mit Maske.
- Lernen aus der ersten Welle. Zurzeit werden mehrere politische Berichte zur Corona-Krise erstellt. Dank ihres Engagements ist Alzheimer Schweiz wichtiger Diskussionspartner, um die Situation von Menschen mit Demenz während dieser Zeit zu beurteilen und wertvolle Lehren aus den gemachten Erfahrungen zu ziehen.
Noch ist es nicht zu spät, gewisse zusätzliche Vorkehrungen zu treffen, um schwierige Situationen in der zweiten Welle zu verhindern:
- Triagerichtlinien in den Spitälern. Wenn sich die Infektionsraten weiter verschlimmern, kann es zu einem Engpass bei den intensivmedizinischen Spitalbetten kommen. Hierfür haben die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) sogenannte Triagerichtlinien erarbeitet. Diese sehen unter anderem vor, dass Menschen mit einer «mittleren Demenz» keine intensivmedizinische Behandlung erhalten, wenn die Betten knapp werden. Alzheimer Schweiz hat zusammen mit anderen Organisationen bereits ganz am Anfang der ersten Welle und erneut in der zweiten sich gegen diese ungerechtfertigte Diskriminierung gewehrt und eine Anpassung der Richtlinien gefordert. In der am 4. November 2020 publizierte Aktualisierung dieser Richtlinien ist zwar Demenz nicht mehr «per se» als Ausschlusskriterium aufgeführt, aber Alzheimer Schweiz prüft, ob das neue Kriterium der «Gebrechlichkeit» (engl. Frailty) Demenzerkrankte nicht indirekt dennoch diskriminiert.
- Situation in den Pflegeheimen. Hinsichtlich Schutzmaterial, Testpolitik sowie Isolations- und Quarantäneregeln sind die Pflegeheime besser für die zweite Welle gewappnet. Hingegen gilt es, die Ausnahmen des Besuchsverbotes weiter anzupassen. Ausnahmen oder Härtefallregeln müssen auch für Menschen mit Demenz gelten, denn fehlende Sozialkontakte gefährden die psychische Gesundheit und beschleunigen die Verschlechterung des Allgemeinzustands. Zudem müssen die Persönlichkeitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner sowie das Recht auf Selbstbestimmung und Privatheit respektiert werden.
- Unterstützung der Angehörigen in der zweiten Welle. Nicht nur Demenzkranke leiden unter der Situation. Geschlossene Schulen und Entlastungsangebote (z.B. Tagesstätten) für Menschen mit Demenz, oft noch zusätzlich Homeoffice seitens des Arbeitgebers, haben überdurchschnittliche Belastungen für die Angehörigen mit sich gebracht. Diese kommen oft schon unter «normalen» Bedingungen an ihre Grenzen und waren daher bereits vor Beginn der zweiten Welle am Ende ihrer Kräfte. Ihre psychische und physische Gesundheit ist dadurch besonders gefährdet, was wiederum für die Betreuung der Demenzerkrankten negative Auswirkungen haben kann. Alzheimer Schweiz und ihre Sektionen setzen sich weiterhin dafür ein, dass betreuende und pflegende Angehörige sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene angemessen unterstützt werden.