Das sage ich mir oft, seit ich die Diagnose Alzheimer habe – und damit eine Krankheit, die Schritt für Schritt voranschreitet und die mir immer wieder neue Hindernisse auf meinem aktiven und selbstbestimmten Leben in den Weg legt.
Mein Leben mit Alzheimer heisst für mich zunächst und zu allererst: Mit mir selbst leben zu lernen. Keine einfache Sache! Viele Dinge, die bisher selbstverständlich waren, sind es plötzlich nicht mehr. Ich vergesse etwas, kann mich trotz aller Anstrengung nicht mehr an eine bestimmte Person oder einen Ort erinnern. Dinge werden verlegt, Informationen verschwinden im Nichts und die Suche nach Sachen am Arbeitsplatz, zuhause und im Kopf ist zeitaufwändig, qualvoll, oft auch erniedrigend. Selbst wenn es mir oft gar nicht so schlecht gelingen würde: Ich will nicht über meine Defizite und meinen gesundheitlichen Zustand hinwegtäuschen, so tun, als sei alles in bester Ordnung mit mir. Ich will offen kommunizieren, in der Hoffnung, gehört und ernst genommen zu werden. So wie ich bin, mit meinen guten und weniger guten Seiten, vor allem auch mit meinen Defiziten.
Meinem Gegenüber versuche ich, ein sachliches und wahrhaftes Bild von mir vermitteln. Ungeschminkt, authentisch, differenziert und aufrichtig. Mit all den vielen Wenn und Aber, die meines Erachtens zu jedem Leben gehören. Ich fühle mich irgendwie dazu verpflichtet und bemühe mich gleichzeitig, mein Gegenüber nicht zu überfahren, vor den Kopf zu stossen und zu verletzen. Dosierte Ehrlichkeit sozusagen.
Ich verstehe das als Teil eines ganz gewöhnlichen menschlichen Lebens- und Erfahrungsprozesses: zusammen zu kommunizieren und gemeinsam leben zu lernen. Mit gegenseitiger Rücksicht und Anteilnahme. Und mit kritischer Distanz zu sich selbst ebenso wie gesunder Neugierde.
Vorsätze sind gut. Kritische Selbstbeobachtung und Analyse sind besser. Sie gehören für mich zu befriedigenden Beziehungen, Begegnungen auf Augenhöhe mit gegenseitiger Achtung und Verständnis. Meine grösste Herausforderung seit Beginn meiner Krankheit ist es, mich selbst nicht als Hindernis zu sehen und zu erleben. Mir den Weg offen zu halten und aktiv beizutragen zu Verständnis, Freundschaft, Zusammensein und gemeinsamem Leben in guter Gesellschaft mit meinen Mitmenschen.
Seit ich an Alzheimer erkrankt bin und meine zunehmenden Defizite selbst immer deutlicher und schärfer wahrnehme, versuche ich diese möglichst klar und offen gegenüber Dritten zu kommunizieren. Einfach und sachlich, ohne irgendwelchen wehleidigen oder gar vorwurfsvollen Ton. Das hilft mir sehr. Weil ich dann ohne Versteckspiel und ungeschminkt so sein kann, wie ich bin. So dass, wenn ich mehrere Male die gleiche Geschichte oder Anekdote erzähle, auf ein gewisses Verständnis meiner Gesprächspartnerinnen und -partner zählen darf. Selbst wenn meine Gegenüber bei meinen direkten und unverblümten Botschaften manchmal etwas leer schlucken, versteht sie oder er zumindest in den groben Zügen. Die Reaktionen sind fast immer positiv. Ich spüre, dass sie gewisse meiner Verhaltensweisen und Reaktionen klarer und besser einordnen können. Und vielleicht auch, dass ich nicht nur eine Krankheit bin. Es ist ein Prozess. Ein gemeinsamer Prozess, zu dem beide Seiten beitragen können und sollten.
Mein Vorgehen mag etwas forsch, geradezu aufdringlich erscheinen. Es ist jedoch der aktive Versuch, eine gemeinsame Basis für eine fruchtbare Verständigung herzustellen und mein Gegenüber nicht im Ungewissen zu lassen. Gleichzeitig versuche ich oder strenge mich an, mit meinen eigenen Defiziten umzugehen und leben zu lernen; Schritt für Schritt, so lange und so gut es mir noch gelingt. Und es ist schön, manchmal ein Zeichen des Verständnisses zu erleben. Es ist ein kleiner persönlicher Trost zu fühlen, dass mein Gegenüber bereit ist, mich so zu nehmen und zu akzeptieren wie ich bin. Allenfalls kann ich sogar einen kleinen Beitrag leisten zum besseren Verständnis darüber, was ein Leben mit Demenz in unserer stark leistungs- und effizienzorientierten Gesellschaft bedeutet.
Ich bin nicht nur eine Krankheit. Ich bin immer noch ein Mensch! Das ist meine eigene und tröstliche Botschaft, die ich mir immer wieder selbst überbringe. Vor allem nach guten, angenehmen und erfreulichen Begegnungen mit angenehmen, freundlichen, offenen und sensiblen Menschen.