Interview mit Andrea Radvanszky, lic. rer. soc., und Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola Biller-Andorno
Wie erleben Menschen die Diagnose Demenz gemäss Ihrer Studie?
Ausnahmslos als eine emotionale Krise. Das eigene Leben verändert sich stark und die Betroffenen antizipieren, was kommt. Deutlich wird aber auch, wie sie ihr Leben in die Hand nehmen und sich Gestaltungsmöglichkeiten schaffen, eine neue Einstellung entwickeln und Strategien finden, um mit Erinnerungsproblemen umzugehen. Dennoch, Demenz ist ein psychisches Leiden und eines, das unsichtbar und schwer artikulierbar ist. Wenn wir diesen Aspekt anerkennen, wäre den Menschen mit Demenz viel geholfen. Er wäre der Grundstein der patientenorientierten Behandlung – das Ziel von DIPEx.
Was sind die grössten Herausforderungen, die Angehörige von Menschen mit einer Demenzerkrankung erleben?
Der Beziehungsaspekt. Denn wenn ein Mensch sich in der Welt nicht mehr wie gewohnt orientieren kann, können auch die Menschen um diese Person herum sich nicht mehr am Gewohnten und Vertrauten orientieren. Pflegenormen wie Empathie, Geduld, sich anpassen usw. sind viel leichter eingefordert als umgesetzt, weil nicht berücksichtigt wird, dass bei Demenz nicht nur der einzelne Mensch erkrankt, sondern auch die Sozialbeziehung betroffen ist. Wir brauchen eine neue Terminologie, denn Demenz ist nicht am Anfang leicht und nachher schwer, sondern sie ist von Anfang an schwer. Und wir brauchen eine Pflegeethik, die Identität integriert und nicht allein auf Autonomie ausgerichtet ist.
Welche Empfehlungen von Angehörigen im Umgang mit der Erkrankung resultieren aus Ihrer Studie?
Angehörige haben viele direkt und indirekt formulierte Empfehlungen, z. B. Mitspracherecht einfordern. Angehörige setzen sich für ihre demenzerkrankten Nächsten ein, wenn und weil diese es selbst nicht mehr können. Wenn Angehörige aber über die Behandlung (Medikamente, Dosierung, medizinische Eingriffe) oder ihre Rechte (z. B. Besuchsrecht in der Psychiatrie) nicht informiert werden, können sie nicht patientenorientiert mitgestalten. Angehörige von Demenzerkrankten miteinzubeziehen, muss in der Gesundheitsversorgung zum Standard werden. Diese bekannte Forderung ist bis heute nicht eingelöst.
Kommentare
Lucio
30.11.2023