Immer diese Klischees! Mein erster Gedanke, wenn es um Demenz und Aggression geht. Natürlich kennen wir alle Menschen, die eher «aggressiv» reagieren. Eben: Reagieren. Dazu braucht es einen Auslöser.
Ein Lieblingskinderbuch von mir ist «Ferdinand, der Stier». So ein Stier, so anders, so sensibel, so romantisch! Sein Verträumtsein hat jedoch ein jähes Ende, als er sich nichts ahnend auf eine Biene setzt! Gerade in dem Moment kommen diese Herren zur Auswahl des aggressivsten Stiers! Sie sehen einen vollkommen ausser Rand und Band geratenen und nehmen ihn mit. Doch: Tage später schlendert er entspannt in die Arena, schnuppert dem Damen- und Blumenduft nach. Nichts mehr mit Aggressionen, so sehr sich die Toreros auch aufregen! Einschneidend so ein Bienenstich! Der «Stich» eines Wortes, einer Meinung, und schon folgen Schreie, Türenschlagen, Wegrennen, Verstummen – «aggressive» Reaktionen. Unser aller autonomes Nervensystem reagiert auf die empfundene Bedrohung mit einer Extraportion Adrenalin. Eine automatische Schutzreaktion mit schnellem Herzschlag, weichen Knie, Zittern – kennen wir. Und wie beim Ferdinand spüren wir nach einer Weile, wie sich der Puls verlangsamt.
Aber wie ist es bei krankheitsbedingten Veränderungen wie einer Demenz? Auch da sind Aggressionen eine Reaktion auf ein Erleben, nur können Situationen rascher «stressen» als früher. Die laute Strasse, der übervolle Bahnhof, laute Durchsagen, die Sorge, den Weg noch zu finden. Das Gehirn kann diese verschiedenen Reize weniger rasch aufnehmen, verarbeiten, in die richtige «Kiste» tun: Bedrohlich, nicht bedrohlich, hilfreich oder überflüssig? Und schon entstehen Stress und Aggressivität. Erhöht das nun die «Gefährlichkeit» von Demenzerkrankten? Tobende Kinder, ob verwandte oder fremde, sind laut, das Kreischen, unvorhersehbare Bewegungen lösen bei manchen, auch bei Menschen mit Demenz, Stress aus. Würde ein_e Demenzerkrankte_r auf ein kreischendes Kind unkontrolliert reagieren, sprich es schlagen oder anders verletzen? Ich kenne kein Beispiel, weder aus einem familiären Umkreis noch aus einer Einrichtung mit gemeinsamen Aktivitäten.
Kürzlich berichtete mir eine Familie, der Grossvater habe an der lauter werdenden Kindergeburtstagsfeier die Kinder laut beschimpft und weggewiesen. Unangenehm! Aber: Niemand – mit oder ohne Demenz – teilt vorsorglich mit: «Heute vertrag ich wenig Stress.» Wir wissen nicht, ob oder wann Stress entstehen wird oder ob die Person diesen teilweise selbst regulieren kann. Deswegen gilt es, ein solches Ereignis zu lenken: Etwa indem man eine Begleitperson für den Grossvater vorsieht, gar einen separaten Ausflug plant.
Das häufige Elterndilemma in meinem Berufsalltag: Die Bedürfnisse der Kinder und die des Grosselternteils mit Demenz zu vereinbaren. Aus Unsicherheit überlassen Eltern die Enkelkinder nicht mehr so einfach ihren Grosseltern. Aus Sorge, dass Grosi oder Grosspapi in einer Notsituation nicht die richtigen Schritte einleitet. Stress verschlechtert immer die Planungsfähigkeit, das Denken. Eine Krankheit hemmt dies noch zusätzlich. Wann reden wir über Bedürfnisse und «Grenzen»? Die Demenz macht nämlich nicht «von jetzt auf gleich» einen anderen Menschen aus dem Grosi. Oft löst bereits die Diagnose Unsicherheit und Traurigkeit aus: «Was geht (noch)? Ich muss Aktivitäten mit den Enkelkindern loslassen.» Ich meine, eine frühzeitige Diagnose bietet gerade auch die Chance, die Diskussion darüber zu begleiten: Wie das Leben mit Demenz leben? Denn was ich ebenso oft bei der Arbeit höre: Die Begegnung mit den Enkelkindern ist jeweils ein Highlight und reduziert sogar den Stress der erkrankten Person, wenn sie begleitet ist und auf Stressanzeichen reagiert wird. Darum – reden wir über Wünsche und Grenzen, betrauern gemeinsam Verluste und freuen uns über die gemeinsame Sprache der Emotion und der Würde.
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