In welchem Stadium der Erkrankung ist eine Logopädie sinnvoll?
Effektiv und sinnvoll ist sie bei beginnender Demenz. Hier sind die Betroffenen noch gut orientiert. Auch bei einer leichten kognitiven Beeinträchtigung, dem Vorstadium einer Demenz, kann Logopädie viel bewirken, um sprachliche Fähigkeiten zu aktivieren und zu erhalten. Sprache, soziale Kontakte und Bewegung gelten als Schutzfaktoren, um einer Demenz vorzubeugen. Es sind zugleich jene Faktoren, die die Auswirkungen der Erkrankung verlangsamen. Demenz ist nicht der Anlass, nichts zu tun. Logopädie befähigt Menschen mit Demenz, aktiv mit der Erkrankung umzugehen.
Wie geht die Logopädin, der Logopäde vor?
Zuerst möchten wir etwas über die Person, ihre Lebensgeschichte, ihre Lernbiografie und ihren aktuellen Kontext erfahren. Dann erfassen wir, wo sie sprachlich steht: beim Sprechen, Lesen, Schreiben, Führen von Dialogen, Verstehen und auch in der digitalen Kommunikation. So entsteht ein individuelles Profil, bei dem die Therapie ansetzt. Es geht dort darum, Aktivitäten aufrechtzuerhalten, und es geht darum zu helfen, wie Gespräch mithilfe von Strategien gelingen, dies zusammen mit den primären Gesprächspartnerinnen und -partnern.
Werden auch Übungen durchgeführt, beispielsweise in Lesen und Schreiben?
Ja. Gerade bei der Alzheimer-Krankheit sind Lesen und Schreiben starke Ressourcen. Wir nutzen Lesetexte in einfacher Sprache. Diese sind durch kurze Sätze und eine einfache Struktur gut verständlich. Im Internet sind auch Nachrichten in einfacher Sprache verfügbar. Oder ich unterhalte mich als Therapeut mit dem betroffenen Menschen über ein alltagsnahes oder biografisches Thema. Während des Gesprächs mache ich mir Notizen, am Schluss entsteht daraus ein kleiner Text. Die an Demenz erkrankte Person kann ihn mitgestalten, wunderbar lesen und laut vorlesen. Da heisst es dann etwa: Ich liebe die Berge. Das Matterhorn ist schön und hoch. Ich war schon auf der Schynigen Platte. Ab 3000 Metern liegt Schnee.
Konfrontiert die Beschäftigung mit der Sprache die Menschen mit Demenz nicht gerade mit einer unweigerlich abnehmenden Fähigkeit?
Nein, denn die Logopädie konzentriert sich auf die Ressourcen und nicht auf die Defizite. Oft ziehen sich Erkrankte anfänglich zurück. Aus Angst, einen Fehler zu machen, weichen sie Gesprächen aus und schreiben nicht mehr. Oder sie bestellen die Zeitung ab, weil sie nicht mehr alles verstehen. Mit der Logopädie erfahren sie: Ich kann vieles noch, in einer Art und Weise, die meinen Möglichkeiten entspricht. Durch Erfolge in der Therapie erleben sich Menschen mit Demenz als sicherer, als nicht «out», nicht verloren. Sie treten sprachlich nach aussen, sie sind noch dabei und bleiben mit der Welt in Kontakt. Einen äusserst wichtigen Beitrag leistet auch das Umfeld mit einem angepassten Verhalten.
Angehörige werden also in die Sprachtherapie einbezogen?
Ja. Wie stark, hängt ein wenig von der Therapeutin, dem Therapeuten ab. Ein Coaching mit Einbezug der Angehörigen ist ein grosser Gewinn. Gemeinsam entwickeln wir Strategien, wie ein Gespräch trotz der Schwierigkeiten gut laufen kann. Angehörige lernen zum Beispiel, Menschen mit Demenz nicht mit Fragen zu überhäufen und sie nicht zu korrigieren. Wichtig ist, den Rhythmus zu verlangsamen und auf Emotionen einzugehen. Auch das Schweigen auszuhalten und sich einfach am Zusammensein zu erfreuen, will zuerst gelernt sein.
Sie haben die digitale Kommunikation erwähnt. Auf den ersten Blick wirkt das für Menschen mit Demenz wie eine zusätzliche Hürde.
Nicht für demenzbetroffene Menschen von heute, unabhängig vom Alter. Die kommen zunehmend vom Laptop her, vom Smartphone, vom Internet, von Whatsapp. Sehr viele sind digital unterwegs, auch 90-Jährige. Deshalb gilt es digitale Kommunikationsmöglichkeiten vermehrt zu berücksichtigen. Man sollte die Menschen mit Demenz da nicht unterschätzen. Gerade Messenger-Dienste wie Whatsapp und andere ermöglichen, unkompliziert zu kommunizieren: Daumen hoch mit Emoji, ein Foto schicken, eine Sprachnachricht aufnehmen. Und wenn ich ein Problem damit habe, frage ich die Enkelin, den Enkel.
Wer verschreibt Logopädie bei Demenz, und wer bezahlt sie?
Logopädie kann von Ärztinnen und Ärzten verschrieben werden, sie wird von der Krankenkasse bezahlt. Es handelt sich um eine Leistung der Grundversicherung, bei Demenz genauso wie nach einem Schlaganfall. In der geriatrischen Rehabilitation ist Logopädie gut verankert, meist mit Fokus auf Schluckstörungen. Bei beginnender Demenz, wenn die Menschen noch vergleichsweise fit sind, ist die Logopädie zu meinem Bedauern erst wenig verbreitet. Auch weil hausärztliche Praxen nichtmedikamentöse Behandlungsoptionen oft zu wenig kennen. Logopädie wird als Therapie für Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung betrachtet, dabei ist sie für Menschen von 1 bis über 100 Jahre da.
Wie lange dauert die Therapie, und wie findet man geeignete Therapeutinnen und Therapeuten?
Die Dauer der Logopädie ist unterschiedlich. An Kliniken erfolgt eher eine intensivere Therapie über mehrere Wochen. Auch eine intervallmässige Therapie oder eine Therapie nur alle vierzehn Tage kann sinnvoll sein, um hilfreiche Impulse für den Alltag zu vermitteln. Geeignete Therapeutinnen und Therapeuten findet man über die Memory-Kliniken oder über den Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband, der eine Liste führt, sowie über den Verband in der Westschweiz und im Tessin.
Zur Person: Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner ist Experte für Sprach- und Kommunikationsstörungen. Bis zu seiner Pensionierung leitete er den Studiengang Logopädie an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Er forschte unter anderem zu Sprache und Demenz. Heute ist er Mitglied des Expertenbeirats Forschung von Alzheimer Schweiz.
Jürgen Steiner im Videogespräch zu Logopädie bei Demenz.
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Natale
09.10.2024