In Nathalie De Febis’ Wohnung in einem Hochhaus in Bern West zeugen Fotos von ihrem alten und neuen Leben. Auf einem Tisch im Wohnzimmer ist ein Bild platziert, das sie mit dem heutigen Lebenspartner zeigt. Auf einer Kommode beim Eingang erinnern sorgfältig arrangierte Fotos an ihren Ehemann Gianluca De Febis. «Er war meine Jugendliebe, ein Familienmensch und super Vater für unsere zwei Söhne», sagt sie. 2020 verstarb er, erst 49-jährig. Vier Jahre zuvor war bei ihm nach mehreren Fehldiagnosen frontotemporale Demenz festgestellt worden. Diese Form der Demenz tritt meist im mittleren Alter auf.
Das neue Glück und das grosse Tabu
April 2024
Schon etwa 2015 hatte sich Gianluca De Febis in seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit zu verändern begonnen, was charakteristisch ist für frontotemporale Demenz. Er legte sich nach der Arbeit eine Stunde in die Badewanne und sang lauthals Kinderlieder. Anstatt beim Kochen zu helfen wie früher, verzog er sich ins Bett.
Beim Essen kannte er kein Mass mehr, beim Autofahren ging er gefährliche Risiken ein. Sich selber und sein Umfeld vernachlässigte er zusehends. Es kam zu Spannungen in der Familie. Auch am Arbeitsplatz als IT-Spezialist wurde es schwierig, ebenso im Fussballclub, bei dem er das Frauenteam trainierte.
Im Abwärtsstrudel
Schliesslich verlor er den Job, doch selber hatte er kein Bewusstsein für den eigenen Zustand. Zu den ärztlichen Abklärungen, auf die seine besorgte Frau drängte, war er nur schwer zu bewegen. Heute weiss Nathalie De Febis: Die fehlende Krankheitseinsicht gehört zur frontotemporalen Demenz.
Die Diagnose der ihr unbekannten, unheilbaren Erkrankung vor Weihnachten 2016 zog der Ehefrau einen Moment lang den Boden unter den Füssen weg. Zugleich war sie «wie ein Weckruf», sagt sie. Ihr sei klar geworden, dass sie ihr eigenes Leben und das ihrer Söhne umso stärker selber in die Hand nehmen musste.
Den widerstrebenden und immer teilnahmsloseren Gianluca unterstützen, eine Betreuungslösung für zu Hause finden. Den pubertierenden Söhnen beistehen. Zeitweise drei Sekretariatsjobs ausüben, um den Lebensunterhalt zu sichern: Nathalie De Febis managte alles und war enorm gefordert. «Du bist in einem Strudel, der dich abwärtstreibt, und probierst einfach zu funktionieren», blickt sie zurück. Einmal landete sie mit einer Überdosis Schlaftabletten auf dem Notfall. Sie habe sich nicht das Leben nehmen wollen, betont sie, nur «einfach mal wieder Ruhe im Kopf». Da realisierte die sonst zeitlebens positiv gestimmte Frau, dass es so nicht weitergehen konnte.
Wieder tanzen, wieder Nähe
2017 kam ihr Mann per fürsorgerische Unterbringung in eine psychiatrische Klinik, später in wechselnde Pflegeheime. In der ersten Zeit vereinsamte Nathalie De Febis. Irgendwann nahmen Freunde sie in ein Tanzlokal mit. Sie merkte, wie gut ihr das tat.
Dann, 2019, lernte sie den Berner Seeländer Thomas Friedli kennen, Vater von zwei Töchtern. Seine Ehefrau Esther war ebenfalls an frontotemporaler Demenz erkrankt. Auf Vorschlag eines Klinikmitarbeiters trafen sich die beiden Angehörigen zu einem Austausch. Sie redeten stundenlang in einer Autobahnraststätte. Rasch machten sie wieder ab, merkten, dass nicht nur die Erkrankung ihrer Ehepartner sie verband. Beide fuhren gern Ski und Motorrad. Sie kamen sich näher und fanden zusammen. «Es sollte so sein und war schicksalhaft», sagt Nathalie De Febis.
Und doch: Eine neue Beziehung eingehen, noch während der Ehemann, die Ehefrau schwer krank im Pflegeheim lebt – damit rüttelten die beiden an einem besonders grossen Tabu. Bei Verwandten und Bekannten nahmen sie teilweise Unverständnis wahr. Nathalie De Febis’ Schwiegereltern richteten schon länger schwere Vorwürfe an sie. Ihre Söhne mussten sich zuerst an die neue Situation gewöhnen, akzeptierten sie aber und gönnten es der Mutter, jemanden zu haben. Diese sagt: «Thomas und ich hatten zwischendurch selber Gewissensbisse und fragten uns: Ist unsere Liebe ein Verrat am Ehepartner?»
Anderen Mut machen
Sie kamen für sich zur Antwort: nein, kein Verrat. Der Mann, den sie einst geheiratet hatte und mit dem sie «27 Jahre lang ein tolles Team» war, sei durch die Eigenheiten der frontotemporalen Demenz entschwunden, sagt Nathalie De Febis. Sie habe schmerzhaft lernen müssen, ihn loszulassen und einen eigenen Weg zu gehen. So achteten die beiden betreuenden Angehörigen, die unerwartet ein neues Glück gefunden hatten, nicht mehr so sehr darauf, was andere dachten. Sie kosteten die gemeinsamen Momente aus, waren weiterhin für die Erkrankten da, gaben sich in deren letzten Lebensmonaten gegenseitig Halt, danach auch in der Trauer.
Thomas Friedlis Frau verstarb im September 2019, ein knappes Jahr vor Nathalie De Febis’ Mann. In einem 2021 publizierten Buch (siehe Tipp) erzählt das Paar seine ungewöhnliche Geschichte, auch Expertinnen und Experten der frontotemporalen Demenz kommen zu Wort. Es soll ein Ratgeber für andere Angehörige sein und diesen Mut machen, sich eigenes Glück zu erlauben, unterstreicht Nathalie De Febis. Sie ist heute 51 und kann das Leben wieder geniessen. Der Erinnerung an Gianluca gibt sie Raum und sagt: «Er wird immer in unserem Herzen sein.»
Mehr zur frontotemporalen Demenz: alz.ch/ftd
Buchtipp
Esther Hürlimann:
Jung und dement.
Wenn das Leben plötzlich ausser Kontrolle gerät.
Stämpfli Verlag Bern, 2021
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