Vor acht Jahren erhielt Sujitra Arbeiter die Diagnose frontotemporale Demenz. Da war die Ehefrau von René und Mutter von Svenja Arbeiter erst Mitte Fünfzig. Seither erfahren die beiden engsten Angehörigen, welche Belastungen diese Form der Demenz mit sich bringt. Besonders schmerzlich: Die Persönlichkeit der Erkrankten veränderte sich. Bei Stress wurde sie aggressiv, kratzte, biss oder schlug, auch in der Öffentlichkeit. Aus Läden liess sie Dinge mitgehen. Mehr als einmal meldete sich die Polizei. Zugleich konnte sich die gebürtige Thailänderin, die drei Sprachen fliessend sprach, kaum noch ausdrücken.
Das eigene Leben wiedergefunden
September 2021
Doch ihr Ehemann und ihre Tochter, beide berufstätig, waren für sie da. Sie fingen alles auf, funktionierten. Bis ihre eigene Gesundheit litt. «Ich wachte jede Nacht nach zwei Stunden auf und grübelte», erzählt der 61-Jährige. Der Schichtleiter musste sich in jener Zeit auch noch einen neuen Job suchen. Sein geliebtes Hobby, das Fotografieren, gab er auf. Er sagt: «Ich hatte kein eigenes Leben mehr.» Es war die Neurologin der Ehefrau, die ihn bei einem Termin darauf aufmerksam machte, dass er auch zu sich schauen müsse: «Sie sagte zu mir: Herr Arbeiter, Ihrer Frau gehts gut, sie strahlt. Aber um Sie mache ich mir Sorgen!»
«Ich war Mami für mein Mami»
Das war der nötige Anstoss von aussen. René Arbeiter suchte zum allerersten Mal einen Ferienplatz für seine Frau und ging ins Wallis wandern. Es habe «Mumm gebraucht, die Frau wegzugeben», sagt er. «Ja, ich musste dich pushen», sagt Tochter Svenja (26) zum Vater, «du hast die Belastung heruntergespielt». Sie war in der Lehre zur Grafikdesignerin, als ihre Mutter die Diagnose bekam. Trotz der Betreuungsaufgaben zuhause schloss sie die Ausbildung mit Auszeichnung ab. Danach wurde sie vollständig «zum Mami für mein Mami». Sie kümmerte sich intensiv, suchte Rat bei Fachpersonen, organisierte ihrer Mutter mithilfe der Spitex eine Arbeit in einer Sozialfirma, als die Krankheit das noch erlaubte.
Während ihre Freunde Zukunftspläne hegten, habe sie ihr eigenes Leben «völlig vernachlässigt», blickt Svenja Arbeiter zurück. Es ging ihr psychisch immer schlechter. Am Tiefpunkt holte sie sich therapeutische Hilfe. «Seither geht es bergauf», stellt sie erleichtert fest. Mit einer Stelle im zweiten Arbeitsmarkt kehrte sie ins Erwerbsleben zurück. Sie zügelte in eine eigene Wohnung. Und sie ist eine aufstrebende Künstlerin (www.skyrenia.com).
Die guten Momente
Selbstsorge bedeutet, das eigene Leben keinesfalls aufzugeben. Das wissen Vater und Tochter jetzt. Auch der Austausch mit anderen Angehörigen tut ihnen gut, in der Selbsthilfegruppe von Alzheimer Zürich und auf Facebook. Eine grosse Hilfe war ein Case-Manager, der der Familie half, sich im Dickicht der Sozialversicherungen zurechtzufinden. Eine solche Begleitperson «für alles aus einer Hand» hätten sie von Anfang an gebraucht, sind sich die Arbeiters einig. Bezahlen mussten sie den Coach selber.
Seit kurzem lebt Sujitra Arbeiter in einem spezialisierten Pflegeheim. Ehemann und Tochter haben wieder mehr Freiraum, auch wenn der emotionale Schmerz bleibt und finanzielle Ängste drücken. Beide wünschen sich eine Enttabuisierung der Demenz. «Es ist für uns Angehörige wichtig, darüber sprechen zu können», sagt die Tochter. Wer zuhört, erfährt: Es gibt trotz allem auch gute Momente. Die Motorrad-Ausflüge von René Arbeiter mit seiner Frau hinten auf dem Sitz, winkend, glücklich. Neue, weichere Seiten, die die Tochter an der Mutter kennenlernte. Svenja Arbeiter ist überzeugt: Wüssten die Leute mehr über Demenz, würde das beide entlasten, die Erkrankten und die Angehörigen.
Audio-Beitrag von SRF «Kontext» mit René Arbeiter:
© SRF Kontext
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