«Die Beobachtungen von Angehörigen sind zentral für eine frühzeitige und korrekte Diagnose», betont PD Dr. med. Marc Sollberger. Er ist leitender Arzt an der Memory Clinic Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER in Basel und forscht seit Langem zur behavioralen Verhaltensvariante der frontotemporalen Demenz (FTD). Bei dieser verändern sich die Persönlichkeit und das Verhalten bereits zu Beginn der Erkrankung, während die Gedächtnisleistungen noch lange erhalten bleiben. Neben der verhaltensorientierten FTD gibt es noch zwei Sprachvarianten der FTD, wobei die Verhaltensvariante etwa viermal häufiger vorkommt als die Sprachvarianten. Insgesamt sind nur ca. fünf Prozent aller Demenzerkrankten von einer FTD betroffen. Nach Alzheimer gehört sie aber zur zweithäufigsten Demenzform bei Personen unter dem 65. Lebensjahr. Frauen und Männer sind dabei gleichermassen oft betroffen.
Fehleinschätzungen können fatal sein
Wenn die Partnerin oder der Ehemann sich zurückzieht, das Interesse verliert an gemeinsamen Unternehmungen oder Hobbys und ungewohnt reagiert, suchen Angehörige den Fehler oft bei sich selbst und vermuten eine Beziehungskrise. «Auch Ärztinnen und Ärzte sind vor einer falschen Diagnose nicht gefeit», erläutert Marc Sollberger, «denn bestimmte Symptome der verhaltensorientierten FTD wie etwa Apathie sind auch typisch für andere Demenzformen und treten ebenso bei einer Depression oder einer sonstigen psychischen Erkrankung auf.
Als Arzt erlebe ich eine Person nur punktuell und nicht in ihrem Alltag. Weiter kenne ich sie nicht von früher und kann entsprechend nicht beurteilen, ob sie sich aktuell anders verhält.» Erhalte jemand mit einer behavioralen FTD fälschlicherweise eine Psychotherapie, weil man eine psychiatrische Erkrankung annehme, bleibe dies erfolglos und sei mit Frustration für die Betroffenen und insbesondere die Angehörige verbunden, erwähnt Marc Sollberger. Eine Fehldiagnose kann weitreichende Folgen haben: Aufgrund der Persönlichkeitsveränderung ist es zunehmend schwierig am Arbeitsplatz, niemand kann sich das veränderte Verhalten erklären. Weil sich die Fehler mehren und die Zusammenarbeit fast nur noch schwierig und konfliktreich ist, kommt es schliesslich oft zur Entlassung. «Wenn das Einkommen plötzlich fehlt und unklar ist, wie es weitergeht, droht oft eine finanzielle Notlage und es verstreicht wertvolle Zeit für die IV-Anmeldung», erzählt Marc Sollberger.
Verhalten verändert sich deutlich
Neben der Apathie gibt es weitere Merkmale, die für die behavioraleFTD typisch sind: Betroffene verhalten sich enthemmt, können Impulse nicht mehr kontrollieren und missachten soziale Regeln. Ihr Sättigungsgefühl geht zunehmend verloren und sie entwickeln einen Heisshunger auf Süsses. Ständiges Pfeifen oder Singen, stundenlanges Laufen oder Putzen oder ähnlich zwanghaftes Verhalten lassen sich beobachten. Aus Beziehungen und Freundschaften ziehen sich Betroffene zurück und verlieren auch zunehmend die Fähigkeit der Empathie. Die betroffene Person nimmt sich als gesund wahr und zeigt keine Krankheitseinsicht. Im Unterschied zu anderen Demenzerkrankungen fehlt diese Einsicht bereits zu Beginn der Erkrankung.
Fragebogen für Angehörige
Verhaltensveränderungen erleben die Ehefrau oder der Lebenspartner wie auch weitere Personen aus dem engeren Umfeld unmittelbar. Um sie bei ihren Beobachtungen zu unterstützen und diese für die Diagnostik zu systematisieren, haben Marc Sollberger und sein Forschungsteam an der Memory Clinic einen Fragebogen für Angehörige erarbeitet, der typische Verhaltensauffälligkeiten der behavioralen FTD erfasst. Erfragt wird auch, seit wann diese Verhaltensauffälligkeiten bestehen und wie ausgeprägt sie sind. Um konventionelles Verhalten wie z.B. gelegentliches Fluchen mitzuberücksichtigen, wurde der Fragebogen zuerst durch 260 Angehörige von Gesunden ausgefüllt. Anschliessend kam der Fragebogen bei Angehörigen von Menschen mit behavioraler FTD, mit Demenz vom Alzheimer-Typ oder mit einer Depression zum Einsatz. Aktuell werden die gesammelten Daten analysiert und ausgewertet. Ziel ist es, dass der Fragebogen fixer Bestandteil in der Frühdiagnostik und Verlaufsbetreuung von behavioralen FTD-Patienten wird.
Schweizer Studie zu FTD
Momentan ist die FTD nicht heilbar. Während medikamentöse Therapien wegen den Nebenwirkungen nur zurückhaltend eingesetzt werden, können nicht medikamentöse Therapie wie beispielsweise körperliche Aktivitäten oder Entspannungstrainings durchaus hilfreich sein und gewisse Verhaltensauffälligkeiten mildern.
Aktuell läuft weltweit eine Medikamentenstudie für Patienten mit einer FTD-Variante aufgrund einer bestimmten Genmutation (Veränderung des Erbguts) an. Das Medikament soll dazu führen, dass die Krankheitszeichen der Patienten sich nicht mehr verstärken. Erfreulicherweise ist die Memory Clinic Basel eines der weltweiten Studienzentren. Die Studie soll im Herbst 2020 beginnen. An einer Studienteilnahme interessierte Patienten, respektive deren Angehörige, können sich direkt bei PD Dr. Marc Sollberger (marc.sollberger(at)felixplatter.ch), dem Leiter des Studienzentrums in Basel, melden.
Diagnose bringt Entspannung
«Bereits zu wissen, dass eine Gehirnerkrankung die Ursache für das seltsame, teilweise auch enthemmte Verhalten des Partners ist, hilft Angehörigen enorm», berichtet Marc Sollberger, «nun müssen sie sich nicht mehr länger fragen, ob sie selbst der Grund sind oder ob die Beziehung kriselt.» Die Diagnose bringt meist Entspannung für die Angehörigen und erleichtert den Umgang der Angehörigen mit den Verhaltensstörungen der Betroffenen. «Besonders bei der behavioralen FTD ist die Betreuung von Angehörigen sehr wichtig», betont Marc Sollberger. «Weil diese Demenzform selten ist, das Verhalten des Erkrankten irritiert und sich Freunde und Bekannte teilweise zurückziehen, fühlen sich Angehörige oft allein. Ich empfehle darum immer, dass der Ehemann, die Partnerin oder die Kinder eine Angehörigengruppe besuchen. Dann merken sie, dass sie nicht allein sind mit ihrem Schicksal, und erhalten Tipps, wie sie den Alltag besser bewältigen können.»
Drei Formen von frontotemporaler Demenz
Bei der frontotemporalen Demenz bauen sich die Nervenzellen in den Stirnlappen (Frontallappen) und den Schläfenlappen (Temporallappen) ab. Dadurch verändern sich Persönlichkeit und Verhalten, die sprachlichen Fähigkeiten nehmen ab. Drei verschiedene Varianten von FTD sind zu unterscheiden:
Verhaltensorientierte frontotemporale Demenz
Die verhaltensorientierte Form, auch als behaviorale FTD bezeichnet, ist die am häufigsten auftretende FTD-Form. Früher als Morbus Pick bezeichnet, verändern sich Persönlichkeit und Verhalten. Die Person ist antriebslos und oberflächlich, sie verhält sich unangebracht bis distanzlos. Das Einfühlungsvermögen geht zusehends verloren. Die Person vernachlässigt ihre Hygiene und entwickelt einen Heisshunger auf Süsses.
Sprach- und Gedächtnisstörungen treten kaum oder erst spät auf.
Semantische Variante der primär progressiven Aphasie
Die Bedeutung der Wörter geht verloren, später werden auch vertraute Gesichter bzw. Personen nicht mehr erkannt. Die Person spricht grammatikalisch korrekt, jedoch verkleinert sich der Wortschatz zunehmend. Im Verlauf der Erkrankung verändern sich auch die Persönlichkeit und das Verhalten.
Nicht flüssige Variante der primär progressiven Aphasie
Die Wortbedeutung wird nach wie vor verstanden, jedoch ist das passende Wort nicht mehr abrufbar. Das Sprechen ist anstrengend und verläuft stockend und die Grammatik und die Aussprache sind fehlerhaft. Die Persönlichkeit, das Gedächtnis und das Orientierungsvermögen bleiben meist intakt.
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