Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das dichte, grüne Blattwerk der alten Bäume. Bald würde sich der Sommer verabschieden. Umso mehr genoss ich einen der letzten warmen Septemberabende. Auch mein Vater, der neben mir auf der Parkbank sass, schien sich wohlzufühlen. Seine Augen waren halb geschlossen, er schien in Gedanken versunken. Ich hatte seine linke Hand in meine genommen, und drückte sie sanft. Wir boten zweifellos ein harmonisches Bild.
Ich hatte die Hände meines Vaters immer geliebt. Sie waren gross und kräftig, gleichzeitig aber auch weich und warm. Als Kind waren sie für mich ein Garant für Sicherheit und Geborgenheit. Nichts konnte passieren, wenn mich mein Papa fest an der Hand hielt, egal, ob er mich auf dem Schulweg begleitete, mir beim nächtlichen Spaziergang in den Bergen die Sternbilder erklärte oder auf der Chilbi mit mir Geisterbahn fuhr. Das änderte sich erst, als ich zum Teenager wurde. Dann bestand ich auf Abstand, alles andere wäre mir peinlich gewesen. Und so waren der seltene spielerische Klaps oder das etwas hilflose Schultertätscheln die Höhepunkte liebevoller väterlicher Gefühle.
Es war kühl geworden. «Papa, es ist Zeit heimzugehen», sagte ich. Er schien wie aus einer Trance aufzuwachen und schaute mich liebevoll an. Als ich aber aufstehen wollte, traf mich plötzlich ein kräftiger Schlag am Oberarm. Mein Vater hatte wieder einmal ausgeholt. Immer, wenn ein solch aggressiver Ausbruch passierte, schossen mir die Tränen in die Augen. Nicht weil es mir besonders wehtat, ich konnte diesen so plötzlichen Wesenswandel meines sonst so sanften Vaters einfach immer noch nicht fassen.
Doch auch dieses Mal dauerte es nur Sekunden, bis er zu realisieren schien, was er getan hatte. Ich sah das Entsetzen in seinen Augen, das dem entschuldigenden Blick eines kleinen Buben wich. Natürlich wusste ich rein intellektuell, dass diese starken Gefühlsschwankungen eine «normale» Reaktion eines an Demenz erkrankten Menschen sein konnten. Aber in der Realität damit umzugehen, war etwas anderes. Ich liess mir nichts anmerken, und auch er schien das Ganze glücklicherweise sofort wieder vergessen zu haben.
Mein Vater war Anfang 80, als wir merkten, dass sich er sich veränderte. Zu Beginn hatten wir noch Witzchen darüber gemacht, wenn er die Milch statt in den Kühlschrank in den Schuhschrank stellte. Er war ja schon immer der Typ «zerstreuter Professor» gewesen. Und er war auch immer noch ein sehr gut aussehender Mann. Erst als ich ihn an einem verschneiten Januartag am Bahnhof in Zürich abholte – wir wollten zusammen mittagessen gehen – und entdeckte, dass er mit seinen Hausschlappen aus dem Zug stieg, war die Zeit der Spässchen schlagartig vorbei.
Die Demenz schritt so schnell voran, dass meine Mutter schon nach kurzer Zeit keine Kraft mehr hatte, ihn daheim zu pflegen. So suchten und fanden wir ein privates Pflegeheim für ihn.
Eine Stunde nach dem «Zwischenfall» auf der Parkbank lag mein Papa im Bett seines neuen Daheims. Ich hatte ihn mit einer leichten Decke zugedeckt, das kleine Nachtlicht brannte.Als ich ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirne drückte, nahm er meine Hand, drückte sie und sagte: «Danke mein Schatz.» Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, erinnerte ich mich nicht mehr an den schmerzlichen Vorfall im Park, sondern an seine grossen, weichen Hände, die mir immer so viel Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hatten.
Und dieses Gefühl ist geblieben, jedes Mal, wenn ich an meinen inzwischen verstorbenen Vater denke.
Silvia Aeschbach ist Journalistin, Autorin und Bloggerin. Sie schreibt u.a. für tagesanzeiger.ch und die SonntagsZeitung. Zudem veröffentlicht sie in der Coopzeitung wöchentlich ihre beliebte Kolumne. Sie hat vier Bestseller geschrieben. Der letzte, «Glück ist deine Entscheidung» erschien im Frühling 2019. Silvia Aeschbach lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Zürich.
Kommentare
Gerd Walter
01.12.2020Familie Walter aus Greifswald( Deutschland )
Elisabeth
01.12.2020Und jeden Tag geniessen
Bettina Hackel
01.12.2020Alzheimer Schweiz
02.12.2020herzlichen Dank, dass Sie Ihre berührenden Erinnerungen an Alex mit uns teilen. Es ist eine sehr grosse Herausforderung, mit allen Aspekten einer Demenzerkrankung als liebende Partnerin umgehen zu lernen. Vor allem mit einer starken Persönlichkeitsveränderung. Es ist schön zu lesen, wie gross die Unterstützung - sowohl von Alex - so gut als möglich - für Sie, als auch von Ihrer Umgebung für Sie beide war. Behalten Sie sich Ihre guten Erinnerungen - wir wünschen Ihnen alles Gute.