«Indem wir unsere Herzen öffnen, hoffen wir, dass die Alzheimer-Krankheit bekannter wird. Vielleicht hilft das, dass das Verständnis für die Betroffenen und ihre Familien wächst», schrieb Ronald Reagan 1994 in einem offenen Brief, in dem er seine Alzheimer-Diagnose bekannt gab. Das war vor dreissig Jahren. Der Schritt des ehemaligen amerikanischen Präsidenten allein konnte das Alzheimer-Tabu nicht brechen, aber es war doch ein starkes Signal. Der Weg in die richtige Richtung wurde geebnet und der Mensch hinter der Krankheit rückte ins Zentrum. 


Was ist ein Tabu? Im Wörterbuch wird es u. a. als «etwas, über das nicht gesprochen werden darf» definiert. Aber woher kommt es nun im Zusammenhang mit der Alzheimer-Krankheit? Um den Ursprung verstehen zu können, so Dr. med. Stéfanie Monod*, Mitglied des Zentralvorstandes von Alzheimer Schweiz, müsse man – genau wie bei den Tabus zu Behinderung, Alter oder Tod – bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts zurückgehen: Damals erzielte die Medizin entscheidende Fortschritte, die das biomedizinische Wissen und das Verständnis von Organen und Krankheiten grundlegend veränderten.


«In der Folge betrachtete man die erkrankte Person jedoch isoliert. Die systemische Dimension – Umfeld, Familie, Vergangenheit – wurde von ihr abgekoppelt. Man interessierte sich nur noch für die Organe. Es entstand der Mythos, dass man die Ursache einer Krankheit und ihre Heilung verstehen könne, wenn man wisse, wie der Körper funktioniert», bedauert Stéfanie Monod, die selbst einen holistischen Ansatz mit spiritueller Dimension verficht.


Allmächtige Medizin kommt an Grenzen

Die Vorstellung, dass die Medizin sämtliche Krankheiten heilen und den Tod hinausschieben könnte, wird von einer Gesellschaft genährt, die Wohlbefinden, Gesundheit und Leistung wertschätzt und ein idealisiertes Bild vom Alter hegt. «Wir haben die Vorstellung angenommen, dass wir bis ans Lebensende in bester Form sein sollen. Dadurch werden Behinderungen und psychische Probleme aus dem Bewusstsein verdrängt», sagt Stéfanie Monod.


So wird alles zum Tabu, was als Misserfolg der Medizin gewertet werden könnte. Es scheint jedoch, dass das biomedizinische Allmachtsmodell an sein Ende gelangt. Die Lebenserwartung steigt nur noch langsam, genauso wie die Zunahme an gesunden Lebensjahren. «Die Behandlungen sind heute besser als früher, aber altern tun wir immer noch. Gerade den kognitiven Alterungsprozess konnten wir noch nicht bremsen – das verweist auf eine Art von Ohnmacht der Medizin.»


Gleichwohl stehen wir vor einer grossen Herausforderung für die Zukunft: «Es wird in der Gesellschaft immer mehr ältere kranke oder Menschen mit Behinderungen geben», warnt Stéfanie Monod. Es freut sie zwar, dass die Institutionen grosse Fortschritte gemacht haben in der Betreuung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.


Doch es brauche einen Mentalitätswandel, um diskriminierende Vorstellungen vom Alter und von den entsprechenden Beeinträchtigungen zu bekämpfen. Dieser Wandel erfolgt über Bildung – angefangen bei den jungen Menschen, da diese mit der Herausforderung der alternden Gesellschaft konfrontiert sein werden. «Wir müssen den Kindern vermitteln, dass anders sein in Ordnung ist und man keine Angst davor zu haben braucht. Wir können ihnen vorleben, dass Beziehungen vergnüglich und wohlwollend sein können, auch wenn die abweichenden Verhaltensweisen der Betroffenen nicht den sozialen Normen entsprechen», davon ist Stéfanie Monod überzeugt.