Franzisca Pilgram, zu Beginn muss ich eine Definitionsfrage stellen: Was verstehen Sie unter Spiritualität?
Gemäss dem Theologen Traugott Roser ist Spiritualität genau das, was ein Mensch dafür hält. Jeder und jede bestimmt für sich selbst, was er oder sie darunter versteht. Und doch: Wenn man mit anderen über Spiritualität spricht, muss man erklären können, was damit gemeint ist. Ich verstehe Spiritualität als Sinnsuche, als ein Beziehungsgeschehen zwischen einem Menschen und dem, was sein Leben, oft auch geheimnisvoll, trägt und inspiriert. Spiritualität zeigt sich in unterschiedlichster Weise: innerhalb oder ausserhalb der traditionellen Religionen, in Überzeugungen und Glaubenssätzen, in Texten, Symbolen und Liedern, in Praktiken und rituellen Handlungen. Gerade in Zusammenhang mit Demenz sind auch Gemeinschaftsformen wichtig, die Zugehörigkeit und Vertrauen vermitteln.
Die Langzeitpflege orientiert sich heute stärker an den Ressourcen und den Bedürfnissen der Menschen. Inwieweit kann hier Spiritualität eine Rolle spielen?
Dieser Perspektivenwechsel ist ein Segen: Ich sehe immer wieder, wie Pflegende würdigend und wertschätzend auf das eingehen, was Menschen mit Demenz an Ressourcen mitbringen und von sich zeigen. Sie orientieren sich im Pflegealltag also längst nicht nur an den körperlichen und kognitiven Defiziten, wie es in der Öffentlichkeit und den Medien leider oftmals noch der Fall ist. Es geht vielmehr um einen ganzheitlichen Blick. Und da gehört neben den körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen auch die Spiritualität dazu. Gerade in frühen Phasen von Demenz, wenn Menschen sich mit schmerzlichen Veränderungen auseinandersetzen und vieles loslassen müssen, beginnt sie oft eine wichtige Rolle zu spielen. Betroffene schildern eindrücklich, wie etwa der Bezug zur Natur oder die Verbundenheit mit der Familie wichtig werden. Sie pflegen bestimmte Rituale und finden im Gebet Halt und Geborgenheit, aber auch die Möglichkeit, ihre Angst zum Ausdruck zu bringen.
In der Fachsprache heisst dieses Hinhören «Spiritual Care». Wie muss man sich das vorstellen?
Spiritual Care hat wie auch die traditionelle Seelsorge den ganzen Menschen im Blick, der immer mehr ist als seine körperlichen Symptome oder kognitiven Verluste. Sie signalisiert: Ein Mensch ist auch dann noch jemand, wenn er meint, er habe sich selbst verloren, wie es bereits Auguste Deter, die erste Alzheimer-Patientin, vor mehr als hundert Jahren formuliert hat. Im Gefühl des Würde- und Selbstverlustes brauchen Menschen mit Demenz Begegnungen, die glaubhaft vermitteln: Als Mensch bleibst du wertvoll.
Spiritual Care wird in Akutspitälern, Pflegeinstitutionen und bei der Betreuung zu Hause immer mehr als interprofessionelles Aufgabenfeld anerkannt. Im Bereich der Palliativpflege sind insbesondere für jüngere onkologische Patientinnen und Patienten zahlreiche Assessment-Instrumente entwickelt worden, die die spirituellen Bedürfnisse einer Person erheben und eine individuell angepasste Pflege und Betreuung ermöglichen.
Kommentare