Aus dem Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss sind Stimmen zu vernehmen. Hier werden jeden Morgen verschiedene Aktivitäten angeboten, an denen die Bewohnenden freiwillig nach Lust und Laune teilnehmen können. In der Mitte des Raumes liegt auf einem Tisch eine Auswahl an einfachen bis schwierigen Mandalas bereit, daneben Stifte in unterschiedlichen Farben. Vor den Fenstern mit grandiosem Blick auf den Neuenburgersee hängen selbst gebastelte Girlanden aus Papierkreisen in verschiedenen Farben und Grössen. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben sie mit ihren Namen versehen und Fotos von mehr oder weniger weit entfernten Reisedestinationen darauf geklebt – das Thema des Sommerfestes der Einrichtung. An diesem Vormittag ist noch relativ wenig los. Dafür herrscht auf den Stockwerken reges Treiben. Seit dem Morgengrauen sind die Mitarbeitenden auf den Beinen, um zwischen Aufstehen, Morgentoilette und Pflege auf den Rhythmus und die Wünsche der Einzelnen einzugehen. Manchmal auch auf die Tageslaune.

Das im Grünen des Bellevue-Hügels oberhalb von Yverdon-les-Bains gelegene Pflegeheim Mont-Riant wurde im Februar 2017 eröffnet. Hier leben 56 Menschen, vor allem ältere mit kognitiven Beeinträchtigungen wie Alzheimer in fortgeschrittenem Stadium, aber auch einige mit psychischen Erkrankungen. Es gibt angepasste Wohnungen, eine Alzheimer-Wohngemeinschaft, ein Kurzzeitpflegezentrum und eine Abteilung für die Pflege zu Hause. Damit bildet die in Bellevue geschaffene Einrichtung Mont-Riant das geriatrische Zentrum der Fondation Saphir, die dort auch ihren Verwaltungssitz hat. Die Stiftung ist in dieser Region im Waadtländer Jura Nord sehr präsent. Sie unterhält rund zwanzig Einrichtungen, darunter sechs Pflegeheime und zwei Alzheimer-Wohngemeinschaften, und bietet geriatrische, alterspsychiatrische und erwachsenenpsychiatrische Leistungen an.
 

Entscheidungsfreiheit geben


Das Pflegeheim Mont-Riant setzt im Alltag wie die anderen Einrichtungen der Stiftung ein personenzentriertes und auf Lebensqualität ausgerichtetes Betreuungskonzept in die Tat um, das sich auf verschiedene Ansätze wie die Humanitude® (Pflegemethode nach Gineste-Marescotti), die Validation® (nach Naomi Feil), die Montessori-Methode oder die Carpe-Diem-Methode (nach Nicole Poirier ) stützt. Die Betreuungsphilosophie kommt in dem von der Fondation Saphir entwickelten Aedis-Modell (lateinisch für «Haus») zum Ausdruck. Das Modell zielt darauf ab, den Bewohnenden einen Platz und ihre Entscheidungsfreiheit wiederzugeben. Mit Blick auf die Lebensgeschichte, die Vorlieben und den Lebensrhythmus ist die Betreuung auf die Einzelnen zugeschnitten. Zu diesem Zweck wurden mit den Bewohnenden, den Angehörigen und dem Personal Gespräche geführt. Valérie Baud Mermoud, Betreuungsleiterin bei der Fondation Saphir, erzählt, dass die älteren Menschen auf die Frage: «Wie sieht ein idealer Tag für Sie aus?», sagten: «Sich frei fühlen, gut essen, gut trinken, gut schlafen, soziale Kontakte haben und sinnstiftenden Aktivitäten nachgehen.» 

Mit der Philosophie der Stiftung geht eine bewusste Wortwahl einher. Und Valérie Baud Mermoud zögert nicht, ihre Kolleginnen und Kollegen oder ihre Mitarbeitenden, die vielleicht immer noch den Begriff Betreuung statt Begleitung verwenden, wohlwollend daran zu erinnern. In den Einrichtungen der Stiftung ist nicht die Rede von Patientinnen und Patienten, sondern von Bewohnerinnen und Bewohnern. Es wird auch nicht die Anzahl Betten angegeben, sondern die Anzahl der Menschen, die dort leben. «Die Wortwahl ist wichtig», betont sie. «Sie soll die Aufmerksamkeit und den Respekt, den wir den Menschen entgegenbringen, ausdrücken und widerspiegeln.» 


Kommunikation und Koordination


Der personenzentrierte Ansatz erfordert neben terminologischen Aspekten auch eine ständige Kommunikation und eine gute Koordination innerhalb der Teams. «Diese Philosophie rüttelt festgefahrene Arbeitsabläufe auf», räumt Simon Jaurès ein, Betreuungsverantwortlicher im Pflegeheim Mont-Riant. Die Morgentoilette beispielsweise wird nicht minutiös systematisiert, sondern individuell und situativ an die Bedürfnisse der Menschen angepasst – man lässt jemanden länger schlafen, wenn sie oder er das wünscht, oder verschiebt das Duschen auf später, wenn die Person gerade nicht will. Dieser Ansatz kann entsprechend zu Missverständnissen, Spannungen oder Rivalitäten innerhalb der Teams führen. Das erfordert von der Betreuungsleitung, den Mitarbeitenden mehr Kompetenzen zuzugestehen und ihre Eigeninitiative und Kreativität bei der täglichen Arbeit zu fördern. 

Im zweiten Stock findet derweil im kleinen Pflegezimmer die Übergabe vor dem Schichtwechsel statt. Es herrscht eine gesellige und gelöste Stimmung. «Die Tage folgen einander wohl, aber sie gleichen sich nicht», sagt Céline, Pflegefachfrau, die seit zwanzig Jahren mit ungetrübter Motivation bei der Fondation Saphir arbeitet. «Früher waren wir im Modus des Tuns, heute sind wir im Modus des Seins», versichert sie. «Tagtäglich müssen wir unsere Sichtweise verändern und uns anpassen», ergänzt ihre Kollegin Fidelia, Gesundheitsfachfrau. Das Team hatte umgehend die Arbeitszeiten angepasst, um sowohl die Frühaufstehenden als auch die Nachteulen betreuen zu können. Emilie, Pflegefachfrau, prüft immer wieder ihre Arbeit und fragt sich: «Würde ich wollen, dass man dieses oder jenes macht?» Nachdem auch die Leitung das Personal dazu ermutigt, die Ansätze und Betreuungspraktiken immer wieder neu zu entdecken, bringt Emilie regelmässig ihren Hund Riley mit – zur grossen Freude der Bewohnenden von Mont-Riant.