Er ist 69 und lebt in Graubünden. Gion ist pensioniert. In seiner Werkstatt hat er aber immer noch zu tun: aufräumen, sortieren, fortwerfen. Bis vor wenigen Jahren reparierte er Elektronik, war Schweizer Generalvertreter für einen grossen japanischen Konzern. Aufträge hat er nur noch selten. Irgendwann brachte er die Kunden durcheinander und verlor den Überblick. Es dauerte, bis man wusste, warum. Depressionen, vermuteten die Ärzte zunächst. Dann wurde Demenz diagnostiziert. «Das musste ich erstmal wegstecken», sagt er.
Gion wirkt körperlich fit und sehr agil für sein Alter. Beim Erzählen leuchten seine Augen, manchmal lacht er jungenhaft. Nur wenn ihm irgendein Name nicht mehr einfallen will oder er kurz den Faden verliert, blickt er besorgt zu seiner Frau. Kathrin* ist jünger als ihr Mann. Als Sozialarbeiterin steht sie noch mitten im Erwerbsleben. Kennengelernt haben sie sich, als Kathrin beruflich in die Stadt kam und ein WG-Zimmer suchte. Gion, der damals allein lebte, bot eines an. Aus der WG wurde zwar nichts, doch gefunkt hat es zwischen den beiden trotzdem. Anders als Kathrins Verwandtschaft sah Gions Familie die Beziehung skeptisch. Dieser Gegenwind und weniger die Diagnose waren der Grund, warum sie heirateten. «Als seine Freundin hätte ich von den Ärzten keine Auskünfte erhalten», sagt Kathrin. «Und auch sonst bei allen Entscheidungen wäre es schwierig geworden.» Den Familienzwist bedauern beide. Ein wunder Punkt, über den Gion nicht so gerne spricht.
«Ich bin doch glücklich», sagt er nachdenklich. Gleich darauf hellt sich sein Blick auf, und er lächelt Kathrin zu. «Wir, meinst du», korrigiert sie und streichelt ihm über die Schulter. Gion lacht sein Jungenlachen. «Ja, genauso ist das.» In die Werkstatt geht er fast jeden Tag. Noch lieber geht er ins Café am Bahnhof. Er beobachtet mit Interesse, was die Menschen so machen. Wenn er mal die Rechnung zu zahlen vergisst, ist das kein Problem. Im Café kennt man ihn und sagt dann seiner Frau Bescheid. Gion mag das lebendige Treiben am Bahnhofplatz. Schliesslich ist er dort auch Kathrin zum ersten Mal begegnet.
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