«Ich beobachte ‹meine› 14 Bewohner_innen immer», sagt Kdysty Haile, «ich verstehe es als eine meiner Kernaufgaben. Schliesslich bin ich als Pflegehilfe am meisten in Kontakt mit ihnen.» Seit fünf Jahren arbeitet sie im Pflegezentrum «Drei Tannen» in Wald, das zusammen mit zwei weiteren Heimen an der Studie teilgenommen hat. Die Bewohner_innen in der Demenzabteilung kennt sie genau. Jede und jeder sei eine eigene Persönlichkeit, habe eine Biografie, betont Haile, und eine persönliche Beziehung trage dazu bei, Schmerzen besser zu erkennen.
Den Schmerzen auf der Spur
«Herr Meier* macht oft aus Langeweile ein grimmiges Gesicht», erzählt Haile, «das hat nicht mit Schmerzen zu tun.» Aber natürlich erkenne man an der Mimik durchaus auch Schmerzen. Nicht nur: Wenn jemand beim Aufstehen innehalte oder beim Aufheben vom Bett mit dem Ellbogen ausweiche, könne dies auf Rückenschmerzen hinweisen. Ebenso könne aggressives Verhalten entweder demenz- oder schmerzbedingt auftreten.
Vor der Studie teilten die Pflegehilfen ihre Beobachtungen jeweils am Teamrapport oder bei der Übergabe an die Nachtwache. Während der eineinhalbjährigen Studiendauer wurde dieser Prozess leicht angepasst: Hat die Pflegehilfe den Verdacht auf Schmerzen, beobachtet sie die Person zwei Minuten lang. Dann holt sie eine Pflegefachperson dazu. «Wir beobachten dann gemeinsam weitere zwei Minuten, ganz nach dem Vieraugenprinzip», so Haile. Pflegefachperson und Pflegehelfer_in besprechen anschliessend gemeinsam, welche Massnahmen sie ergreifen. Eine Aromaölmassage, eine physiotherapeutische Übung oder eine Wärmeflasche genügen manchmal, um die Schmerzen zu lindern. Wenn nicht, verabreicht das Fachpersonal Schmerzmedikamente. Dabei beobachten alle die Wirkung. Die Dosierung wird bei Bedarf in Absprache mit der Ärztin, dem Arzt angepasst.
Vielversprechende Ergebnisse
«In allen drei Heimen reduzierte sich die Anzahl Schmerzereignisse signifikant um mehr als die Hälfte», berichtet die Studienleiterin Prof. Andrea L. Koppitz von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Darüber hinaus wurden die schmerzfreien Zeitspannen länger.
Erwähnenswert findet Koppitz zudem, dass zwischen den Pflegenden mit und ohne Tertiärbildung keine Unterschiede in Bezug auf die Beurteilung der Schmerzen von Menschen mit Demenz festzustellen waren. Das zeige, wie wichtig die Rolle von Nichtfachpersonal und deren Einbezug sei. Bei nichtkörperlichen Schmerzen, also etwa psychischen oder seelischen Leiden, käme das Wissen der Pflegehilfen über die individuellen Vorlieben der Heimbewohner_innen auch zum Tragen: Die Lieblingsmusik oder ein Spaziergang könnten auch Linderung verschaffen. Gerade auch die Beobachtungen des Personals mit geringerer Qualifikation helfen deutlich mit, zeit- und situationsgerecht medikamentös einzugreifen.
Wertvolles Empowerment
Kdysty Haile findet es sehr gut, dass das Pflegezentrum an der Studie dabei war. Aufgrund der positiven Erfahrungen führen sie diese Praxis im Heim fort. «Persönlich hat mich das Ganze in meinem Handeln bestärkt», sagt Haile. Ihr Wissen und ihre Erfahrung konnte sie auch an den Coaching-Gesprächen einbringen. Sie sei aber schon sehr froh, dass sie nach Abschluss der Studie keine aufwändigen Formulare mehr ausfüllen muss. Man glaubt Haile aufs Wort, wenn sie sagt: «Ich freue mich über jeden Augenblick, in dem ‹meine› Bewohner_innen – auch dank meinen zwei Augen – weniger lang Schmerzen fühlen müssen.»
* Name geändert
Ein Projekt, das weiterwirken soll
Weil die wirksame Behandlung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz nicht nur im Heim eine Herausforderung ist, plant die Projektleitung Informationsveranstaltungen und Schulungen für Hausärzt_innen, Angehörige und Pflegende in Heimen. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt können weiterverwendet werden, um zum Beispiel (palliative) Notfallpläne für Menschen mit Demenz zu erstellen oder sie in sogenannte «total pain*»-Konzepte zu integrieren.
* Schmerz hat eine körperliche, psychische, seelische und soziale Dimension.
Weitere Informationen: andrea.koppitz(at)zhaw.ch
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