Für Menschen mit Demenz kann Kunst eine kraftvolle Verbindung schaffen – zu Erinnerungen, Emotionen und anderen Menschen. Alzheimer Vaud und das MCBA Lausanne bieten mit dem pARTage-Programm einen einzigartigen Zugang zu Kunst, der speziell auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt ist. In einem geschützten und vertrauensvollen Umfeld erleben Teilnehmende und ihre Begleitpersonen inspirierende Momente voller Austausch, Spontaneität und Freude. Wir haben an einem Besuch teilgenommen.
Wir treffen uns am frühen Nachmittag im MCBA, dem Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne. Der Weihnachtsmarkt, der dort teilweise stattfindet, mit einem Riesenrad und einer Schlittelbahn, verleiht dem Ort eine äusserst festliche Atmosphäre.
Vorgesehen ist eine einstündige Führung mit anschliessendem Imbiss ist in Begleitung von Cécilia Bovet, Kulturbeauftragte des MCBA, und Emmanuelle Bienz, Ausbildungsassistentin von Alzheimer Vaud. Es handelt sich um eine besondere Art von Besuch: Im Rahmen des pAR-Tage-Angebots bilden jeweils eine Person mit Gedächtnisproblemen und eine Freiwillige ein Team. Heute ist dies der dritte Besuch in einem Zyklus von insgesamt vier Besuchen. Was so selbstverständlich klingt, ist in Wirklichkeit wie ein Uhrwerk geregelt: Der Besuch ist sorgfältig vorbereitet und speziell auf die Bedürfnisse der Gruppe abgestimmt.
Ein Ort der Wertschätzung
In der Eingangshalle begrüsst Emmanuelle von Alzheimer Vaud zunächst alle Teilnehmenden, erkundigt sich nach Neuigkeiten und verteilt Aufkleber mit dem Vornamen, die auf den Pullover oder die Jacke geklebt werden. Cecilia vom MCBA erinnert an das Ziel des Besuches, bei drei Werken zu verweilen und dort über die Emotionen zu sprechen, die sie hervorrufen. Und ganz wichtig, dass es keine richtige oder falsche Antwort gebe.
Alle gehen zum Aufzug, wobei einige sich gegenseitig die Arme reichen. Einige Personen tragen die vom Museum zur Verfügung gestellten Klappsitze, während Emmanuelle zusätzlich Holzstühlen mit nimmt. Denn vor zwei Wochen hatten einige Teilnehmende erklärt, dass sie sich auf den Klappsitzen unwohl fühlten. Deshalb steht ihnen heute ein stabiler Stuhl zur Verfügung.
Eine Reise voller Erinnerungen
Wir treffen uns im ersten Stock und setzen uns im Halbkreis um Cecilia herum, die Freiwilligen etwas weiter hinten. Das erste Werk ist ein imposantes Ölgemälde, eine Genreszene am Meer, die von einer wunderbaren Helligkeit erfüllt ist. Je nach Reaktion der Gruppe stellt Cécilia offene Fragen wie „Was sehen Sie?“ oder genauere Fragen wie „Erkennen Sie ein Instrument? Was glauben Sie, wo findet dieses Fest statt?“.
Erst nachdem sie einige Antworten erhalten hat, verrät sie uns den Titel des Kunstwerks und den Namen des Künstlers: La Tarantelle, 1799 von dem Schweizer Maler Jacques Sablet gemalt. Mit einem tragbaren Lautsprecher ausgestattet, schlägt sie dann vor, uns eine Tarantella vorzuspielen, bevor sie in die Runde fragt, wer gerne tanzt. "Früher ja“, antwortet eine Teilnehmerin, “aber jetzt fällt mir das Gehen schon schwer!“ Eine andere erzählt, dass sie Twist, Walzer und Rock & Roll tanzte. Die Männer tanzten gerne Walzer und Cha-Cha-Cha. Und als ein Mobiltelefon zu klingeln beginnt, brechen alle in schallendes Gelächter aus.
Emotionen im Dialog mit Rodin
Zwei Räume weiter sehen wir eine Bronzeskulptur, die ein sich zärtlich umarmendes Paar darstellt. Cecilia fragt, was die Teilnehmenden angesichts dieses Kunstwerks empfinden. Jemand bemerkt, dass die Personen nackt sind. Eine andere sagt, dass sie sich mögen. Ein Teilnehmer ruft aus: „Das ist ein schöner Liebesbeweis“. Eine Person fügt hinzu, dass sie jung sind, weil sie perfekt sind.
Cécilia bestätigt, dass der Künstler Auguste Rodin idealisierte Körper zeigen wollte, und berichtet über die Entstehung des Werks: ein Auftrag für eine Tür, die Dantes Göttliche Komödie darstellen sollte. Eine Teilnehmerin merkte an, dass gemäss ihrer Erinnerung das Paar verurteilt worden war in der Hölle herumzuirren, und dass sie sich dieses Paar nicht so vorgestellt hatte. Cecilia bestätigte, dass die Skulptur 1898 der Öffentlichkeit präsentiert wurde wurde, und dass das Publikum aufgrund des fehlenden Kontexts und der Universalität des Themas das Werk "Der Kuss" nannte. Bei jeder Intervention ermutigt und fördert Cécilia soziale Bindungen, wobei sie stets darauf achtet, dass ihre nonverbale Körpersprache ihre Worte unterstützen.
Optische Täuschungen und ehrliche Reaktionen – Kunst, die polarisiert
Wir klemmen unsere Klappstühle unter den Arm und gehen in den zweiten Stock, in einen Flügel mit zeitgenössischerer Kunst. Wir setzen uns vor eine längliche Leinwand, auf der sich parallele vertikale Linien in Weiss, Grün und Rot zu bewegen scheinen. Die Reaktionen kommen sofort: „Mir tun fast die Augen weh“. „Es ist, als ob es sich bewegt.“ Cecilia schlägt daraufhin vor, zehn Sekunden lang auf die Leinwand zu starren und dann auf die weisse Wand zu schauen: Man sieht, wie sich die Linien darin spiegeln.
Das Ziel des Lausanner Künstlers Philippe Decrauzat ist es tatsächlich, optische Täuschungen hervorzurufen und den Körper und nicht den Geist reagieren zu lassen. Die Teilnehmenden finden auch, dass „es komisch ist“ oder „es nichts bedeutet“. Die Gruppe lacht, weil sie dieses Gemälde nicht zu Hause haben möchte, da es zu abstrakt und für die Augen störend ist. Cecilia schliesst mit der Bestätigung, dass man das Recht hat, etwas zu lieben oder nicht zu lieben, worauf ein Teilnehmer erwidert: „Glücklicherweise!“.
Gemeinsame Momente bei Kaffee und Kuchen – Austausch mit Herz
Jetzt ist es Zeit für den zweiten Teil des pARTage-Angebots: ein gemütliches Beisammensein in einem reservierten Raum im Erdgeschoss, wo wir Kekse, Kuchenstücke, Tee und Kaffee miteinander teilen. Cécilia und Emmanuelle schwirren herum, um die gewünschten Getränke zu bringen, und sorgen dafür, dass sich alle wohlfühlen. Cécilia schenkt allen eine Postkarte von Rodins Skulptur als Andenken an den Nachmittag.
Die Teilnehmenden sowie ihre Freiwilligen tauschen ihre Eindrücke von der Besichtigung aus und knüpfen Kontakte. Die Stimmung ist heiter und entspannt. Ein erster Teilnehmer verlässt uns, indem er seinen Hut in einer eleganten Geste lüftet. Zwei Teilnehmerinnen und ihre ehrenamtlichen Begleiterinnen bleiben länger und verraten viele Details aus ihrem abenteuerlichen Leben. Ein intimer und herzlicher Moment. Die letzten Damen, die gingen, fragten sich, ob sie bei ihrem nächsten Besuch eine Fahrt mit dem Riesenrad machen werden.
Ein gelungener Abschluss mit wertvollen Erkenntnissen
Es ist Zeit für ein Debriefing. Mehrere Personen erklärten, dass sie bereit gewesen wären, ein oder zwei Werke mehr zu sehen. Cécilia und Emmanuelle freuen sich zwar über den Erfolg, sind sich aber bewusst, dass es für Menschen mit Gedächtnisproblemen schwierig sein kann, sich sehr lange zu konzentrieren.
Vielleicht ist es besser, wenn sie etwas hungrig bleiben damit sie den Besuch und den anschliessenden Imbiss voll und ganz geniessen können. Cecilia ist sehr zufrieden mit den Interaktionen, die stattgefunden haben: Alle Personen haben sich beteiligt, ihre Ideen und Gefühle geäussert und bei der Rückkehr im Auzug weiter über die Kunstwerke diskutiert. Auch der Einbezug von Musik war sehr willkommen, da diese andere Sinne anspricht und andere Erinnerungen weckt.
Aufwändige Planung
Die Organisation dieses Angebots ist ein kleiner Balanceakt. Zunächst einmal muss Alzheimer Waadt interessierte Teilnehmende sowie Freiwilligen finden. Letztere müssen ausgebildet werden und danach müssen sie alle zwei Wochen einen Nachmittag aufwenden, um ihre Partner abzuholen, sie während des Besuchs zu begleiten und sie nach Hause zu bringen. Im Museum muss die Vermittlerin die Werke auswählen, die Vorpräsentation planen und dabei die Dauer und die vermittelten Informationen anpassen. Am Tag selbst muss genügend Zeit eingeplant werden, um von einem Werk zum anderen zu kommen. Der Transport der Stühle ist zu organisieren und der Gruppe muss die nötige Zeit zu gegeben werden, um die Atmosphäre aufzunehmen und zu reagieren.
Während des Besuchs, steht Cécilia vor der Gruppe und informiert. Gleichzeitig muss sie auf die Reaktionen der Teilnehmenden achten, um die Gruppenaufgaben anzupassen. Währendessen steht Emmanuelle im Hintergrund, macht sich Notizen und stoppt die Zeit für jeden Schritt, um Cécilia diskret mitzuteilen, wie viel Zeit ihr noch zur Verfügung steht, bevor sie zum nächsten Kunstwerk weiter geht.
Nachdem die Gruppe wieder gegangen ist, ziehen Emmanuelle und Cecilia eine Bilanz des Nachmittags. Die Einführung von Musik und die Verwendung von stabilen Stühlen scheinen sich positiv ausgewirkt zu haben. Beide warten auch auf das Feedback der Freiwilligen, um gegebenenfalls Verbesserungen für die nächste Sitzung vornehmen zu können. „Emmanuelle sagt: „Man darf nicht vergessen, dass das, was dieses Mal funktioniert, beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr funktioniert. "Unsere Aufmerksamkeit gilt den Teilnehmenden“, ergänzt Cécilia, “wir wollen, dass sie sich erfolgreich fühlen und den Moment geniessen.“
Dank dieser Zusammenarbeit zwischen Alzheimer Vaud und dem MCBA fördert die Kunst die Spontaneität und den Ausdruck von Emotionen. Und für ein paar Stunden können die Teilnehmenden vergnüglich und respektvoll auszutauschen.
Weitere Informationen zum Angebot von Alzheimer Waadt: pARTage, visites au musée
Hier zwei Fotos vom Besuch:
Kommentare
veraglagow
03.01.2025veraglagow
03.01.2025Filipovska Marika
07.01.2025Pourriez-vous me dire est-ce que il y aurais des visites aussi en 2025 ?
Je travail aussi dans une maison de personne âges et nous avons un unité psychogériatrie.
Merci d'avance Filipovska Marika