Beinahe 700 Fotografien standen zur Auswahl, als Daniel Comte und sein Sohn Anatole die Arbeiten zum Fotobildband begannen. Kurz zuvor hatte der Vater nach einer langjährigen und erfolgreichen Karriere in der Werbebranche bis hin zum Creative Director mit 51 Jahren die Diagnose Alzheimer erhalten. Dass die Krankheitssymptome damit einen Namen hatten und das jähe Karriereende erklärten, empfanden Daniel Comte und sein damals 21 Jahre alter Sohn auch als Erleichterung. Nachdem der Vater bisher ausschliesslich hobbymässig fotografiert hatte, entdeckte er einige Monate vor der Diagnose die Street Photography für sich. Anfänglich mit einem Smartphone der ersten Generation unterwegs, hielt er blitzschnell zufällige, ungewöhnliche und humorvolle Alltagsmomente fest. Mit der Diagnose war sich Daniel Comte bewusst, dass ihm wenig Zeit blieb, sich als Fotograf zu etablieren. «Zu Beginn hatte mein Vater auch in Farbe fotografiert, bis er sich schliesslich ganz für die Schwarzweissfotografie entschied. Im Bewusstsein, dass seine Schaffenszeit begrenzt war, widmete er sich mit Haut und Haar der Fotografie und entwickelte innerhalb von ein bis zwei Jahren seinen ganz eigenen Stil», erzählt Anatole Comte. Während er im Beruf der Handwerker blieb und die kreative Arbeit am Computer mied, fand der Vater durch seine Fotografie rasch Zugang zu Social Media. Viele seiner Fotos postete er mit einer starken Schlagzeile auf Facebook und blieb so auch nach seiner Berufstätigkeit mit Freunden und Bekannten in Kontakt und baute hier eine grosse Community auf.
Die Struktur finden
Nach den ersten gemeinsamen Arbeiten von Vater und Sohn pausierte das Buchprojekt für rund ein Jahr: In diesen Monaten forderte die Demenzerkrankung des Vaters die volle Aufmerksamkeit der Familie, wozu auch der Umzug des Vaters in eine betreute Wohnform zählte. Während dieser Zeit intensivierte sich auch der Kontakt zu Heike Rindfleisch, einer langjährigen beruflichen Weggefährtin des Vaters und engen Freundin der Familie. «Das Buch war ein Herzenswunsch meines Vaters, den ich unbedingt erfüllen wollte. Aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung wurde die Zusammenarbeit schwieriger», erklärt Anatole Comte. Für ihn war es ein absoluter Glücksfall, dass Heike Rindfleisch das Buchprojekt mit an die Hand nahm. Mit ihr sind neue Aspekte eingeflossen und gemeinsam haben die beiden während vielen Stunden die Fotos besprochen, manche für gut befunden, viele ausgeschlossen und einige nochmals erwogen, bis sich eine präzise Struktur gezeigt hat: Wartende Menschen, Architektur oder Streifen sind beispielsweise Motive, welche die Bildsprache von Daniel Comte prägen.
Demenzsymptome erfahrbar machen
«Da stimmt etwas nicht» – diese Erkenntnis zieht sich für Anatole Comte und Heike Rindfleisch wie ein roter Faden durch das Projekt «Stolen Moments». Von Beginn weg war deshalb für beide klar, dass der Bildband auch das Thema Demenz aufgreifen sollte. Schliesslich hatte die Diagnose das fotografische Schaffen des Vaters wesentlich geprägt und gefördert. Möglichst leicht, skurril und humorvoll – genau wie Daniel Comte selbst – sollte sich Demenz im Bildband widerspiegeln. Bevor jemand eine Demenzdiagnose erhält, bemerkt die Person häufig selbst, dass etwas nicht mehr stimmt: Sie vergisst Termine, reagiert emotional überzogen, erlebt Stimmungsschwankungen oder das passende Wort kommt ihr nicht in den Sinn. «Genau diese ersten Symptome wollten wir im Buch für alle erlebbar machen», erläutert Heike Rindfleisch, «und zwar in der Auswahl und Komposition der Bilder, mit den Schlagzeilen des Vaters, den mit ihm erlebten Anekdoten, aber auch in der Typografie.» Indem beispielsweise Buchstaben verblassen, Wörter sich wiederholen, Buchstaben verkehrt gesetzt sind oder Seiten leer bleiben, ist der Betrachter gleich selbst mit verschiedenen Demenzsymptomen konfrontiert. Leicht, liebevoll und mit einem Augenzwinkern nimmt der Fotoband die Leserin und den Leser mit in eine verspielte, teilweise andere Welt und regt an, die vermeintlichen Fehler zu suchen.
Kommentare
Martha Imboden
23.12.2020