Kurz vor Aufführungsbeginn löst sich endlich die drückende Wolkendecke. Warme Sonnenstrahlen fluten das Zentrum von Sonvico und es tut sich ein atemberaubendes Panorama auf den Golf von Lugano auf. Die Zuschauenden im Saal der Fondazione Opera Charitas – es sind etwa dreissig – warten auf den Moment, in dem das Licht ausgeht und die passende Atmosphäre für den Monolog E tu chi sei? (auf Deutsch: Und wer bist du?) von und mit Isabella Giampaolo geschaffen wird.
 

Kurz nach 17 Uhr betritt die Schauspielerin die minimalistisch gestaltete Bühne. Sie ist in schwarze Kleidung gehüllt. Neben ihr die weisse Büste eines Mannes, vor der dutzende Papierschiffe platziert sind. Auch sie sind weiss. Es ist die dritte Aufführung auf der von Isabella und Alzheimer Ticino organisierten Tournee. Die Idee dahinter entstand an der Hauptversammlung 2023 von Alzheimer Ticino, an der das Stück aufgeführt wurde. Die positive Resonanz bewog die beiden neu ernannten Co-Leiterinnen Silvia Tentori und Pamela Fassora dazu, ein Projekt anzustossen, welches die Inszenierung des Monologs in verschiedenen Alters- und Pflegeheimen im Tessin ermöglichen und damit Orte der Diskussion und des Austauschs schaffen soll.

 

Ein eingespieltes Team an der Spitze von Alzheimer Ticino

Im Juli 2023 übernahm Silvia Tentori, die Gastgeberin des Abends, gemeinsam mit Pamela Fassora die Co-Leitung von Alzheimer Ticino. Mit einem Pensum von jeweils 50  Prozent treten die beiden in die Fussstapfen von Ombretta Moccetti, die die Organisation auch über ihre Pensionierung hinaus noch mit ihren wertvollen Beiträgen begleitet. Ihre neue Funktion beschreibt Silvia als «eine bereichernde Erfahrung; eine Herausforderung, die aus spannenden und abwechslungsreichen Aufgaben besteht». Als diplomierte Pflegefachfrau hat Silvia einen beachtlichen Lebenslauf vorzuweisen: Über viele Jahre war sie in der Intensivpflege tätig, sie unterrichtete an einer Krankenpflegeschule und war an klinischen Studien zur Multiplen Sklerose beteiligt. Den Weg zu Alzheimer Ticino fand sie zufällig, über Bekannte. Um bestmöglich für die neuen Herausforderungen gerüstet zu sein, absolvierte sie die CAS-Weiterbildung La teatralità incontra la demenza (auf Deutsch: Theaterpädagogik und Demenz).

 

Die Phasen der Krankheit

Was das Publikum an diesem Abend erwartet, ist eine Darstellung der täglichen Realität von Demenzerkrankten und Angehörigen. Die Krankheit wird den Zuschauenden über Emotionen nähergebracht. Der Monolog erzählt die Geschichte einer Tochter, die sich mit der Krankheit ihres Vaters auseinandersetzt. Isabella Giampaolo inszeniert eine Reihe von Alltagssituationen, wobei jede Szene eine unterschiedliche Phase der Krankheit darstellt. Wir begleiten die Protagonistin also beispielsweise am Tag ihrer Hochzeit, als ihr Vater sie beim Gang zum Altar fragt: Wo gehen wir denn jetzt hin? Oder wir wohnen einem Vorfall in der Küche bei, als der Vater wütend eine Tasse zu Boden schmettert, weil er sich kritisiert fühlt. Weiter erleben wir die Angst der Tochter, keinen Zugang mehr zu ihrem Vater zu finden: Im Stau stehend beobachtet sie die anderen Fahrerinnen und Fahrer, die mit ihren persönlichen Schicksalen in den Fahrzeugen eingesperrt scheinen, und sieht ihren Vater plötzlich als Auto, in das sie nicht mehr einsteigen kann.
 

Auf die gesprochenen Szenen folgen jeweils musikalisch begleitete mimische Darstellungen, die der Darbietung Pathos und Nachdruck verleihen. Am Schluss sehen sich die Zuschauenden mit einer Frage konfrontiert, welche die Angehörigen von Erkrankten wohl täglich beschäftigt: Entschwinden die Erinnerungen von Menschen mit Demenz tatsächlich nur aus dem Geiste, wie es der lateinische Ursprung der Bezeichnung «Demenz» (de-mens: weg vom Geist) suggeriert, nicht jedoch aus dem Herzen, da die Liebe im Herzen der Erkrankten für immer bleibt?

 

Von der Kunst hervorgerufene Emotionen

Am Publikum, das hauptsächlich aus Betreuungspersonen und Angehörigen von Menschen mit einer Demenzdiagnose besteht, geht der Monolog nicht spurlos vorbei. Selbst Katia Tunesi, die als Pflegefachfrau und Beraterin seit über 30 Jahren bereits viele Patientinnen und Patienten begleitete, kann die eine oder andere Träne nicht unterdrücken. Während der kurzen Diskussion im Anschluss an das Stück betont Katia, wie vielschichtig Demenz sei, und dass sich die Liebe zwar im Laufe der Zeit verändert, jedoch nie erlischt. «Alles, was am Schluss bleibt, sind die Emotionen», stellt sie fest. Auch Raffaella Moresi, Vorstandsmitglied von Alzheimer Ticino und Mitglied des Stiftungsrats der Fondazione Opera Charitas mit Sitz in Sonvico, ist sichtlich berührt von der kathartischen Wirkung, welche die Tessiner Schauspielerin Isabella Giampaolo mit ihrer Darbietung hervorruft.

 

Inspiriert vom Schicksal einer Angehörigen

Isabella Giampaolo, Schauspielerin und Performerin aus dem Tessin, die Theater in Rom und Kanada studierte und einen Master an der Dimitri-Akademie in Verscio absolvierte, blickt auf eine langjährige Erfahrung in den Bereichen Tanz und Schauspiel zurück. Zur Entwicklung des Stücks wurde sie vom Schicksal einer Angehörigen inspiriert: die an Demenz erkrankte Tante ihrer Mutter. Nach der Corona-Pandemie besuchte Isabella Giampaolo die Tante in Sizilien. Sie war tief betroffen davon, wie sehr die Krankheit die Frau innert weniger Jahre verändert hatte und sie nicht mehr ihren Sohn erkannte, der sich tagtäglich um sie kümmerte.
 

Diese Erfahrung liess die Schauspielerin nicht mehr los. Nach monatelangen Recherchen und Interviews mit Demenzerkrankten, Angehörigen und Pflegepersonen lancierte sie ein Jahr später dieses Projekt. Das Ziel, das Isabella Giampaolo und Alzheimer Ticino mit dem Projekt verfolgen ist es, ein Bewusstsein für «stille» Krankheiten wie die Alzheimer-Krankheit zu schaffen, die schleichend beginnen und so viel Leid verursachen – nicht nur bei den Erkrankten selbst, sondern auch bei den pflegenden Angehörigen. Isabella Giampaolo beendet die Aufführung mit dem Gedanken, dass die Kraft des Theaters darin besteht, Emotionen zu wecken und dass es uns dabei helfen kann, mit uns selbst ins Reine zu kommen.
 



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