«Vielleicht muss ich das erst noch lernen»

Angehörige sind dabei selten eine Hilfe. Im Gegenteil: Das wirst du ja wohl noch erinnern, ist ein Satz, den Demenzerkrankte häufig hören. Oder: Was tust du denn da? Wir machen das doch immer ganz anders, gib her! Die geliebte Ehefrau, den eigenen Vater an die Krankheit zu verlieren, bringt Angehörige oft zur Verzweiflung. Für sie ist es schwer zu ertragen, wenn sich Erinnerungen bei den Betroffenen verflüchtigen, wenn alltägliche Handlungen unversehens zu Stolpersteinen werden. Je mehr die Betroffenen abgeben, desto mehr Verantwortung haben die Angehörigen zu schultern. Mit dem Fortschreiten der Krankheit wächst diese Last.
 

Ungezwungen beisammen sein

«Der Entlastungsgedanke war der Ausgangspunkt für die FreiRAUM-Idee», erklärt Anita Laperre, Geschäftsführerin von Alzheimer Graubünden. «Mir war jedoch wichtig, die Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt zu stellen und weniger die Angehörigen.» Sich ungezwungen verhalten zu können, ohne das Gefühl zu haben, Erwartungen zu enttäuschen und nicht mehr zu genügen – das bietet der FreiRAUM in Graubünden den Menschen mit Demenz.

Im Zentrum Planaterra verbreitet sich unterdessen Harzgeruch. «Das hab ich gern», verkündet Seraina und hält sich einen der Zweige an die Nase. Am anderen Ende des Tisches langt Arno in den Haufen Tannenreiser. «Das hier?», fragt er Jolanda Casutt. «Gut, nehmen wir diesen Zweig», antwortet sie ihm. «Du könntest schon mal die Spitzen abschneiden, Arno, die brauchen wir dann für den Kranz.» Dass Jolanda Casutt vor ein paar Wochen die FreiRAUM-Leitung in Chur übernommen hat, ist ein Gewinn. Mit ihrer Empathie schafft sie rasch eine vertraute Atmosphäre. Während die grünen Gebilde wachsen, vergeht die Zeit wie im Flug. Anders als Arno und Seraina erzählt Regula*, eine weitere Teilnehmerin, nur wenig beim Kranzen. Alexa Camastral, die ihr dabei zur Hand geht, bittet sie, in der Dekoschachtel den Weihnachtsschmuck herauszusuchen. Regula ist unschlüssig. «Ich kann mich nicht entscheiden.» «Nimm das, was dir gefällt», schlägt die Betreuerin wie nebenbei vor. Später wird sich herausstellen, dass Regula eine sehr genaue Vorstellung davon gehabt hat, welche der glänzenden Kugeln ihren Kranz schmücken sollen: Drei silberne und drei goldene bilden am Ende eine perfekte Symmetrie.
 

Beherzter Ausklang

«Oh, wie schön», flüstert Regula bei der Schlussrunde. Zu Füssen des Stuhlkreises liegen die fertigen Kränze. Als FreiRAUM-Leiterin Casutt lobend sagt: «Und den hast du selbst gemacht», fragt Regula ungläubig: «Ach, wirklich?» Mit vor Rührung feuchten Augen blickt sie umher. Ihr gegenüber holt Seraina soeben tief Luft. «Wisst ihr, was?», beginnt sie forsch und strafft sich. «Ich kann mich mit der Krankheit einfach nicht abfinden.» Serainas unerwartetes Geständnis klingt im Raum nach, als habe jemand eine Klaviertaste angeschlagen. «Ja, das wollte ich euch sagen», fügt sie beherzt hinzu. «Ich weiss, ich bin dement. Vielleicht muss ich das erst noch lernen.»

«Wir sind musikalisch, sportlich oder gesellig unterwegs»

Die Freizeit nach den eigenen Wünschen gestalten, darin unterscheiden sich Menschen mit oder ohne Demenz nicht. Anita Laperre, Geschäftsführerin von Alzheimer Graubünden, hat deshalb mit FreiRAUM ein Angebot geschaffen, welches speziell auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten von Erkrankten ausgerichtet ist.
 

Wie schwierig ist es, die Zielgruppe zu motivieren?

Die Möglichkeit, miteinander etwas zu unternehmen, sich auszutauschen, gemütlich und auch fröhlich beisammen zu sein – ohne Druck und Erwartungen –, wirkt allein schon motivierend. Schwierig ist eher, die Angehörigen daran zu erinnern, dass unser Angebot für ihre erkrankten Partner wichtig und bereichernd ist – auch wenn diese sich nicht immer daran erinnern, was sie genau gemacht haben. Die Emotionen bleiben.
 

Welche Erfahrungen machen Sie, wenn der FreiRAUM mit Demenzbetroffenen unterwegs ist?

Wenn wir unterwegs sind, ist Aussenstehenden sicher nicht immer klar, wer denn an einer Demenz erkrankt und wer «gesund» ist – das macht die Gruppe eben so wertvoll. Wir lernen extrem viel voneinander. Auch wir «Gesunde» haben viel zu lernen. Wir unternehmen zusammen Dinge, die eigentlich alle noch machen können. Manchmal mit etwas mehr Unterstützung, an kreativen Nachmittagen beispielsweise, oft aber auch völlig ohne ersichtliche Einschränkungen.