Als sogenanntes «Nachzüglerli» kam mir in meiner Kindheit zugute, dass meine Eltern mehr Zeit für mich hatten als für meine ältere Schwester. Vor allem mein Vater unternahm, wann immer es sein Beruf erlaubte, viel mit mir. Wir gingen oft zusammen ins Schwimmbad, unternahmen Bergtouren oder beobachteten auf Waldspaziergängen die unterschiedlichsten Tiere. Ihm als Wissenschaftler war es immer wichtig, mir die Zusammenhänge in der Natur zu erklären und mir Flora und Fauna näherzubringen.
Eines meiner schönsten Erlebnisse war, als wir in den Ferien eines Nachts draussen waren und er mir den Sternenhimmel erklärte. Verstanden habe ich wenig, ich muss noch ziemlich klein gewesen sein. Aber in der Dunkelheit neben ihm zu stehen, meine kleine Hand in seiner grossen Faust, den Blick in die Unendlichkeit des Universums gerichtet, umhüllte mich eine Geborgenheit, die ich heute noch spüre, wenn ich daran denke.
Einige Jahre bevor mein Vater an Demenz erkrankte, sagte er bei einem Spaziergang: «Ich wünsche mir, ich könnte alle meine schönen Erinnerungen in kleine Gläser abfüllen. Und wenn ich Lust darauf hätte, könnte ich sie öffnen und all diese Erlebnisse und Eindrücke wären wieder ganz frisch. So, wie wenn man ein Parfumfläschchen öffnet und vom Duft betört ist.»
Als mein Vater seine letzten drei Lebensjahre im Pflegeheim verbrachte, sprach er, vor allem in der ersten Phase seiner Erkrankung, häufig von der Vergangenheit. Auch später, als er immer häufiger in seine eigene Welt versank, gab es immer wieder diese speziellen Momente, in denen er plötzlich aus seiner Dunkelheit aufzutauchen schien. Dann überzog ein fast seliges Lächeln sein Gesicht, und er erzählte Begebenheiten, die weit zurücklagen und die ihn anscheinend sehr geprägt hatten. Häufig tauchten dann seine Mutter, mein Grosi, auf, sein Büsi, das er sehr geliebt hatte, und alte Schulfreunde, denen er Streiche gespielt hatte. In diesen Momenten fragte ich mich jeweils, ob er wohl eines seiner Erinnerungsfläschchen geöffnet hatte. Seine sichtliche Freude schien darauf hinzudeuten.
Unvorstellbar, dass mein Vater schon seit bald zwanzig Jahren nicht mehr bei uns ist. Auch ich habe im Laufe meines Lebens ganz besondere Erinnerungen konserviert. Und wenn er mir besonders fehlt, dann öffne ich eines meiner «Fläschchen», das mit ihm verbunden ist. Besonders gerne mag ich jenes aus der Sternennacht. Dann ist er mir ganz nah. Und natürlich verschliesse ich es später in Gedanken wieder ganz fest. Denn diese besonderen Momente sollen sich nie ganz verflüchtigen.
Silvia Aeschbach ist Journalistin, Autorin und Bloggerin. Sie schreibt u.a. für tagesanzeiger.ch und die «SonntagsZeitung». Zudem veröffentlicht sie in der «Coopzeitung» wöchentlich ihre beliebte Kolumne. Sie hat sechs Bestseller geschrieben. Der letzte, «Sind denn alle guten Männer schon vergeben?», erschien im Herbst 2020. Silvia Aeschbach lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Zürich.
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