Wenn es um die Wahrnehmung von Sinneseindrücken geht, gehöre ich zu den sogenannten «Nasenmenschen». Ich hatte nie einen besonders scharfen Blick, und mit der Fähigkeit des guten Hörens halte ich es mit meinem Vater, der stets auf eine selektive Wahrnehmung setzte. Er hörte nämlich nur das, was er wollte. Dies bestätigte auch der Hausarzt meiner Mutter, als sie Angst hatte, dass ihr Ehemann mit zunehmendem Alter taub würde. Seine Antwort: «Liebe Frau Aeschbach, vielleicht will Ihr Mann einfach mehr Ruhe», verletzte sie zwar, auch wenn der Arzt nicht ausdrücklich angefügt hatte «von Ihnen». Aber Hauptsache, wir wussten, dass mein Vater durchaus in der Lage war, zu verstehen, was man zu ihm sagte. Wenn ich jeweils sichergehen wollte, sagte ich zu ihm: «Achtung Papa, jetzt kommt eine wichtige Durchsage!» Dann konnte ich sicher sein, dass er seine Ohren spitzen würde. Denn so wie ich war auch mein Vater unglaublich neugierig.
Durch meine sogenannte «Hundenase» – diese Vierbeiner verfügen ja über einen ausgezeichneten Geruchssinn – bin ich meistens die Auserwählte, wenn es darum geht, festzustellen, ob ein Wein nach Zapfen riecht. Ich muss ihn auch nicht kosten, sondern kann dies einfach «erschnüffeln». Ich bin also keine Vorkosterin, sondern eine Vorriecherin. Hätte ich früher an einem Königshof gearbeitet, wäre ich wenigstens nicht den Gifttod gestorben, so wie viele bedauernswerte Vorkoster. An einem schlechten Geruch ist ja noch niemand gestorben, oder?
Nun ja, gestorben vielleicht nicht, aber sterbensübel wurde mir durchaus schon oft, wenn mir ein starker Schweiss- oder Parfümgeruch beinahe die Sinne raubte. Wenn meine Mitmenschen beim Geruch einer Parfümwolke etwas angewidert die Nase rümpfen, bin ich bereits im Fluchtmodus. Vom Werbespruch «chli stinke muess es» fühle ich mich überhaupt nicht angesprochen. Der Geruch von Käse war übrigens der Grund, warum ich mich als Kind und Jugendliche weigerte, solch «stinkiges Zeug» zu essen. Und ehrlicherweise bevorzuge ich auch heute noch Käse, dessen Duft mich nicht schon «umhaut», wenn ich die Kühlschranktüre öffne.
So wie sich Genussmenschen an einem vorzüglichen Essen erfreuen oder Augenmenschen von einem tollen Panorama hingerissen sind, so lösen intensive Gerüche bei mir eine wahre Bilder- und Erinnerungsflut aus. Natürlich bin ich mir bewusst, dass auch andere Menschen emotional reagieren können. In meinem Hirn läuft jedoch in solchen Situationen ein ganzer Spielfilm ab. Hat er ein Happy End, geniesse ich ihn, Horrorstreifen schalte ich möglichst schnell ab. Heute versuche ich, schlechten Gerüchen aus dem Weg zu gehen. Ich fahre nicht zu Stosszeiten Tram, meide volle Kino- oder Konzertsäle und die Parfümabteilungen von Warenhäusern. Dafür erfreue mich an denjenigen Düften, die mich glücklich machen: Etwa wie die Natur nach einem Frühlingsgewitter duftet oder wie die Speckfalte am Hals meines Baby-Grossneffen riecht – jedenfalls, wenn er nicht gerade seine Windel voll hat – oder wie meine Wäsche duftet, wenn ich sie an der Sonne habe trocknen lassen.
Und dann gibt es noch ein Aftershave, welches ich mit meinem Vater verbinde. Dies, weil er sich nach dem Rasieren jeweils damit parfümierte. Jedes Mal, wenn ich diese besondere Mischung von Frische und Wärme rieche, ist er mir wieder ganz nah. Und damit das oft passieren kann, steht die Flasche Pitralon stets griffbereit in meinem Badezimmer.
Silvia Aeschbach ist Journalistin, Autorin und Bloggerin. Sie schreibt u.a. für tagesanzeiger.ch und die «SonntagsZeitung». Zudem veröffentlicht sie in der «Coopzeitung» wöchentlich ihre beliebte Kolumne. Sie hat sechs Bestseller geschrieben. Der letzte, «Sind denn alle guten Männer schon vergeben?», erschien im Herbst 2020. Silvia Aeschbach lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Zürich.
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