Manchmal braucht es ein gewisses Alter, um gewisse Sätze, die man früher immer hörte, richtig einzuordnen. Einer der Aussprüche, die meine Mutter gerne zum Besten gab, war: «Was dein Vater nicht hören will, hört er nicht.» Was übersetzt bedeutete, dass mein Vater durchaus über ein gutes Gehör verfügte. Falls ihn aber ein Thema nicht interessierte, schaltete er dieses einfach auf off. Und reagierte, wenn wir nachfragten, mit einem «Häh?». Damit ging er nicht nur der Mutter, sondern auch der restlichen Familie auf die Nerven. Und er freute sich jedes Mal königlich, hatte er doch einmal mehr sein Göschenen-Airolo-Spielchen gewonnen, wie wir es damals nannten – hier rein, dort wieder raus.
Mein Vater hatte das selektive Hören perfektioniert. Kamen in den wortreichen Schilderungen meiner Mutter Begriffe wie Haushalt, Nachbarinnen, Schwiegermutter, Verwandte oder Rechnungen vor, stellte mein Vater seine Ohren auf Durchzug. Dabei schaute er entweder angestrengt in seine Zeitung oder gedankenverloren aus dem Fenster. Natürlich durfte man ihn bei diesen «wichtigen» Tätigkeiten nicht stören. Denn als Wissenschaftler war er quasi immer im Dienst. Es konnte ja sein, dass ihm genau in dem Moment, wenn ihn seine Frau bat, den Abfallsack runterzutragen, eine für die Menschheit bahnbrechende Erkenntnis einfiel.
Es gab durchaus Begriffe, die keinerlei Wiederholung bedurften, um Vaters Aufmerksamkeit zu wecken. Ging es um Desserts, Zugfahren, Geheimnisse, Literatur, Bergwandern und Agatha Christie, war mein Vater ganz Ohr. Denn diese Dinge liebte er über alles. Als Kind gab es darum eine einfache Formel, um ihn hellhörig und milde zu stimmen, zum Beispiel, wenn es um schlechte Noten oder eine Aufbesserung des Taschengeldes ging. Am besten brachte man ihm nach dem Mittagessen, bevor er sein tägliches Schläfchen machte, eine Schale mit seiner Lieblings-Schoggicreme, seine Lieblingszeitung und am besten noch einen neuen Krimi seiner Lieblingsautorin.
Wenn ich höre, was für Erfahrungen mein weibliches Umfeld mit tauben Männern gemacht hat, kann ich behaupten, es handelt sich um ein typisches männliches Phänomen. In letzter Zeit frage ich mich, ob das erfolgreiche Verdrängen ungeliebter Botschaften und, damit verbunden, die Fokussierung auf positive Nachrichten auch mir helfen würden, meinen Alltag etwas leichter zu leben. Besonders wenn es um Lieblingsthemen wie Falten, Kalorien, Gewicht, Älterwerden, Langeweile und Krankheiten geht. So könnte ich meine Energien definitiv für Wichtigeres sparen. Denn Menschen, die immer das Gleiche bejammern, wollen eigentlich keine Antworten von ihrem Gegenüber, sondern sie wollen sich einfach reden hören.
Mein Vater beherrschte das selektive Zuhören bis an sein Lebensende. Nur dass seine Demenzerkrankung dies leider noch zusätzlich unterstützte. Was sich allerdings nicht änderte, waren gewisse «Codeworte», die ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern konnten. Die Schoggicreme gehörte bis am Schluss dazu.
Silvia Aeschbach ist Journalistin, Autorin und Bloggerin. Sie schreibt u.a. für tagesanzeiger.ch und die «SonntagsZeitung». Zudem veröffentlicht sie in der «Coopzeitung» wöchentlich ihre beliebte Kolumne. Sie hat vier Bestseller geschrieben. Der letzte, «Glück ist deine Entscheidung», erschien im Frühling 2019. Silvia Aeschbach lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Zürich.
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