Hass! Gewalt! Dräuendes Unheil! Negative Nachrichten aus aller Welt haben mich jüngst wieder einmal arg deprimiert. Doch dann bin ich auf einen Zeitungsartikel gestossen, der einen Kontrast dazu bildete und den ich gerne weitererzählen möchte. Der Artikel handelte von Hans Daiber, einem fast 70-jährigen Mann in einem schwäbischen Dorf unweit der Schweizer Grenze. Er wurde mit einer kognitiven Behinderung geboren und lebt dennoch selbstständig auf dem Hof seiner Familie. Als sein über 90-jähriger Vater im Jahr 2008 verstarb, hätte Hans eigentlich in eine Einrichtung umziehen müssen. Stattdessen schaut nun das ganze Dorf zu ihm.
Der Mieter in der Wohnung im oberen Stock des Daiberhofs hilft Hans im Alltag ein wenig beim Zurechtkommen. Als Gegenleistung darf er kostenlos dort wohnen, so hatte es Hans’ Vater vor seinem Tod organisiert. Eine ältere Nachbarin in der Nähe bemerkt es, wenn Hans von einem seiner ausgedehnten Spaziergänge nicht zurückkehrt. Notfalls können viele bei der Suche helfen. Da er ein Handy mit sich trägt, lässt sich sein Standort per GPS ermitteln. Die technische Anleitung ist für alle sichtbar an der Tür des Hofs angeschlagen.
Die Bäckereiverkäuferin hat Verständnis, wenn Hans bei seinen wöchentlichen Einkäufen etwas länger braucht. Eine pensionierte Coiffeuse schneidet ihm die Haare, bei einer Bibliothekarin kann er sich Bücher in grosser Schrift ausleihen. Ein Biobauer, der genauso alt ist wie Hans und schon neben ihm aufwuchs, ist bis heute sein bester Freund. Und dann gibt es noch eine Betriebsökonomin, eine entfernte Verwandte, die als Hans’ Vormundin unter anderem sein Budget verwaltet.
Alle tragen auf ihre Weise dazu bei, dass Hans Daiber in seinem Zuhause bleiben kann und ganz selbstverständlich integriert ist. «Er ist einer von ihnen, fertig», schreibt die Autorin des Beitrags, der in der «Süddeutschen Zeitung» erschienen ist. Sie hebt eine feine, stille Lokalgeschichte hervor, zusammen mit einem Fotografen, der selber aus dem Ort stammt. Nach dem Lesen schaute ich auf und war berührt: Es gibt im Kleinen noch das Positive, den Zusammenhalt.
Dieses Beispiel kann jedoch auch in einen grösseren Kontext gestellt werden. Fachleute betrachten ein solches Engagement von Bürgerinnen und Bürgern als Teil eines Konzepts, das sie «sorgende Gemeinschaften» nennen. Gemeint ist, dass sich Menschen an einem Ort im Alltag unterstützen. Dies sei ein Weg, um mit der wachsenden Zahl älterer Menschen, dem steigenden Bedarf an Betreuung und den veränderten Familienstrukturen umzugehen. Aber Achtung, die Politik ist damit nicht fein raus. Es geht darum, freiwillige Tätigkeit, professionelle Dienstleistungen und eine sozialstaatliche Finanzierung miteinander zu kombinieren.
In der Schweiz erkennen immer
mehr Gemeinden den Wert von
sorgenden Gemeinschaften.
In der Schweiz erkennen immer mehr Gemeinden, Quartiere und Regionen den Wert von sorgenden Gemeinschaften. Kümmer-Netzwerke werden bewusst aufgebaut und gefördert. Diese Entwicklung kommt insbesondere auch Menschen mit einer Demenzerkrankung und ihren Angehörigen zugute. Nicht nur wegen der Unterstützung bei der Betreuung, auch weil die Betroffenen in der Mitte der Gesellschaft bleiben.
Mir gefällt der Gedanke der geteilten Verantwortung. Und dass die Fürsorge gegenseitig ist. Wie bei Hans Daiber, dem vom Dorf behüteten Einwohner aus dem Artikel. Er gratuliert allen der über 400 Personen im Dorf zum Geburtstag und schreibt einigen von ihnen regelmässig Briefe. Diese enden immer mit den Worten: «In Liebe sendet Hans.»
Susanne Wenger ist Journalistin und Historikerin in Bern. Sie schreibt über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und dabei immer wieder auch über Alter und Demenz.
Kommentare