Unlängst jagte ein Schreiben der Hausverwaltung meinen Puls in die Höhe. Nein, keine Mietzinserhöhung. Nur die Information, die Garagen bei unserer Liegenschaft in einem städtischen Wohnquartier würden saniert. So weit, so unerlässlich. Was mich konsternierte, war die beiläufige Mitteilung, wegen der Bauarbeiten müsse der nahe Baum gefällt werden. Schon nächste Woche rücke die beauftragte Firma mit der Säge an.
Was? Der grosse, schöne, alte Nussbaum sollte weg? Obwohl er voll im Saft und eine ziemliche Seltenheit im urbanen Umfeld war? Nun sollte er weichen, weil er dem Garagen-Bagger ein paar Wochen lang im Weg stand? Das konnte doch nicht sein! Mehrere Nachbarinnen und Nachbarn dachten spontan das Gleiche. Übers Wochenende taten wir uns zusammen. Verfassten einen Brief an die Verwaltung, sammelten Unterschriften, kontaktierten Baumfachleute.
Die Kinder im Haus zeichneten unseren Baum. Voller Nüsse, Vögel, Schmetterlinge. Am Montag übergaben wir die Petition. Noch am gleichen Tag lenkte die Vermieterin ein. Sie verzichtete darauf, den Baum zu fällen. Für den sicheren Aushub fand sie eine andere Lösung, beraten von der Stadt. Es war ein Happy End. Der Einsatz für den Nussbaum hatte sich gelohnt und uns einen Moment lang zur Gemeinschaft gemacht. Jüngere und Ältere, Familien und Alleinlebende, Kranke und Fitte. Danach gingen alle wieder ihrem Alltag nach.
Später dachte ich darüber nach, warum der mögliche Verlust des Baumes uns derart mobilisiert hatte. Schliesslich sehen wir uns als gemässigte Leute, keine Fanatiker, die sich an Bäume ketten, wenn irgendwo in höherem Interesse ein Zweiglein geknickt werden soll. Aber dieser bald hundertjährige Nussbaum – er tut uns mit seiner ruhigen, unerschütterlichen Präsenz gut. Er war da, bevor das Quartier dicht besiedelt wurde. Er zeigt uns zuverlässig die Jahreszeiten an. Wir hören dem Rauschen des Windes in seinen Blättern zu. Wir lassen müde Augen auf seinem Grün verweilen. Er spendet Schatten, dämpft den Lärm.
Mit den Sinnen wahrnehmen. Sich im Jahresverlauf orientieren, am wiederkehrenden Rhythmus. All das ist nach Erkenntnis von Expertinnen und Experten besonders hilfreich bei einer Demenz. Jahreszeiten eignen sich auch, um lebensgeschichtliche Erinnerungen hervorzurufen. Wie im Frühling jeweils Ostern begangen wurde. Baden im See, im Sommer. Herbstgefühle. Die schneereichen Winter von früher. Die Erinnerung mag aufgrund der Erkrankung bruchstückhaft bleiben, die Erzählung klein. Doch das eigene Leben erhält dadurch Bedeutung. Jemand hört zu, hilft mit.
Es steckt also deutlich mehr drin als nur Botanik, im Nussbaum neben unserem Mietshaus im Quartier. Philosophinnen, Dichter, Therapeutinnen und Kulturwissenschaftler sind der Vielschichtigkeit und Symbolik von Bäumen schon nachgegangen. Am liebsten mag ich jene, die ohne Esoterik auskommen. Wie der deutsche Autor Günter Eich. «Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!», schrieb er schlicht. Der Satz gilt für uns alle, mit und ohne Demenz.
Susanne Wenger ist Journalistin und Historikerin in Bern. Sie schreibt über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und dabei immer wieder auch über Alter und Demenz.
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