Der Termin bei Alzheimer Schweiz war abgemacht und stand rot in der Agenda von Marianne Lehmann. Zum Dank für die Unterstützung wollte sie der Vereinigung eine Skulptur schenken, die ihr Mann in der Bildhauerschule geschaffen hatte. Den Besuch der Schule hatte Alzheimer Schweiz möglich gemacht. «Die Stunden, die Maximilian mit Bildhauern verbringen konnte, waren ein absoluter Segen», so Marianne Lehmann. Ihr Mann hatte das Bildhauern für sich entdeckt, nachdem er aufgrund seiner vaskulären Demenz nicht mehr arbeiten konnte. Es machte ihn glücklich. Das Handwerkliche und gleichzeitig Künstlerische am Bildhauern entsprach ihm. Als Berufsmann hatte er alte Häuser renoviert. «Ich habe immer gesagt, er hat etwas von einem alten Baumeister aus früherer Zeit. Er gab den Häusern ihre Seele zurück und gleichzeitig passte er sie der heutigen Zeit an.» Zuerst besuchte Maximilian eine Bildhauerschule im Raum Zürich. Nachdem der Umzug in den Thurgau nötig geworden war – eine Wohnung im Grossraum Zürich war für das Paar zu teuer geworden –, suchte Marianne Lehmann eine neue Schule in der Nähe. Ihr Mann sollte weiterhin als Künstler arbeiten können. «Die Schule kam mir zwar entgegen, aber die Stunden waren immer noch relativ teuer. Ich bin selbstständig erwerbend, wie mein Mann es auch war. Finanziell sind wir nicht auf Rosen gebettet.» Der Unterstützungsfonds von Alzheimer Schweiz sprang in die Bresche. Maximilian Lehmann konnte die Schule während eines Jahres regelmässig besuchen und seine Kreativität und Schaffenskraft ausleben. Seine Frau nutzte die Zeit, die er im Atelier verbrachte, derweil für sich und zum Energietanken.
«Die Wandlung»
Der Termin rückte näher und Marianne Lehmann wurde klar: «Es geht nicht, ich muss absagen.» Die Skulptur, die nach Bern gehen sollte, war die letzte, die ihr Mann noch selbst zu Ende bringen konnte. Im März 2019 erlitt er einen folgenschweren Schlaganfall.
Er lebt seither im Pflegeheim, die geliebte künstlerische Tätigkeit ist nicht mehr möglich. Die Skulptur aus Speckstein heisst «Wandlung». «Sie hat für mich einen hohen emotionalen Wert. Ich konnte sie nicht weggeben, es war unmöglich.» Marianne Lehmann sagte ab. Dass Alzheimer Schweiz nun aber gar kein Dankeschön erhalten sollte, liess ihr keine Ruhe. Ein paar Tage später hatte sie die Lösung gefunden. Sie liess bei einem befreundeten Künstler ein Replikat der Skulptur giessen, packte es sorgfältig ein und reiste damit nach Bern. Marianne Wolfensberger war mit der Familie für die Unterstützung in Kontakt und durfte das Geschenk zusammen mit Geschäftsleiterin Stefanie Becker in Empfang nehmen. Es sei eine anrührende und bewegende Begegnung gewesen, erinnert sie sich. «Der Unterstützungsfonds hilft, wenn andere Stricke reissen. Marianne Lehmann hat mir versichert, dass unsere Hilfe ihrem Mann zufriedene Stunden ermöglicht und auch ihr viel gebracht hat. Das freut mich sehr, und dass wir nun sogar ein Resultat seiner Arbeit bei uns haben dürfen, berührt mich ganz besonders.»
Marianne Lehmann besucht ihren Mann täglich. Der Mann im Bett des Pflegeheims ist ein anderer als der, mit dem sie die letzten 34 Jahre verbracht hat. Seit knapp einem Jahr ist Maximilian Lehmann im «Abendfrieden». Erste Anzeichen der Krankheit hatten sich bei ihm vor neun Jahren bemerkbar gemacht. Das Stufenförmige der vaskulären Demenz sei bei ihm lehrbuchmässig verlaufen, so Marianne Lehmann. Lange Zeit habe sie versucht, es zu ignorieren, wie der Vogel Strauss. Ein bedeutsamer Einschnitt war der Schlaganfall vor einem Jahr. Für einen Moment sah es danach aus, als würde sich Maximilian Lehmann nicht mehr erholen. Er war zwei Wochen auf der Palliativstation. Er kämpfte sich zurück, erholte sich aber nicht genügend, um nach Hause zurückkehren zu können. Marianne Lehmann ist froh, dass sie ihn im Pflegeheim gut betreut weiss. Sie nimmt jeden Tag, wie er kommt, «arrangiert sich laufend mit dem, was noch ist».
«Kennst Du mich noch?»
Marianne Lehmann musste sich in den Jahren mit der Krankheit ihres Mannes immer wieder von Gewohntem und Bewährtem verabschieden. Als Maximilian frühzeitig in Rente gehen musste, beim Umzug weg aus Zürich, als er die Fähigkeit verlor, mit seinen Händen etwas zu erschaffen, als ihm der Schlaganfall die Sprache nahm. Es sei ein Abschied nach «Salamitaktik», sagt sie, ein Abschied in Raten. «Ich versuche aus dem, was noch ist, hundertprozentig das Beste zu machen. Wir wissen nicht, wo er kognitiv steht. Aber ich bin sicher, da ist noch viel vorhanden, einfach ohne Sprache. Als ich ihn kürzlich gefragt habe: ‹Kennst Du mich noch?›, da hat er so gelacht.» Marianne Lehmann pflegt ein Ritual. Jedes Mal, bevor sie nach Hause geht, legt sie ihrem Mann die Hand auf die Brust und sagt: «Wir sind behütet. Ich wohne bei Dir und Du bei mir.»
Eine zweite Skulptur ihres Mannes liebt Marianne Lehmann sehr. Es ist die erste, die entstanden ist. Gefertigt ist sie aus blütenweissem Alabaster. «Maximilian hat sie mir zum Geburtstag geschenkt. Als ich das Geschenk auspackte, hatte ich Angst. Was, wenn sie mir nicht gefällt?» Die Angst war unbegründet und die Skulptur hat – wie die «Wandlung» auch – einen besonderen Platz in ihrem Herzen.
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